Leidensgeschichte Bulimie„Alles wird gut, wenn ich nur dünn genug werde“

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Bulimie ist mehr als Fressen und Brechen und vor allem meist eine lange Leidensgeschichte.

„Liebe Mia!“, so beginnt Lara Brockhage ihren Abschiedsbrief an die „Liebe ihres Lebens“, die Bulimie. „Du hast mich so vieles gelehrt, aber du kannst jetzt aufhören, deine schützende Hand über mich zu halten.“ Bis Lara sich zu diesen Sätzen, zu diesem Verlust durchringen kann, vergeht allerdings viel Zeit.

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Buch-Cover

In ihrem Buch „Alles wird gut mit 50 Kilogramm“ erzählt die heute 23-jährige Lehramtsstudentin ihre lange Leidensgeschichte. Sie beginnt als sie 18 Jahre alt ist und die 12. Klasse einer Gesamtschule besucht. Sehr bald wird jedoch klar, dass die Ursachen für ihre Krankheit schon viel früher begründet sind – in ihrer Kindheit und frühen Jugend.

Die Mutter versuchte sich das Leben zu nehmen, als Lara neun Jahre alt war

Natürlich gibt es viele verschiedene Auslöser, die einen Menschen dazu bringen können, nicht nur das Essen zu verweigern, sondern sich auch anderweitig selbst zu verletzen. Bei Lara, so weiß sie jetzt, war es das Verhalten ihrer Mutter, die versucht sich umzubringen, als ihre Tochter erst neun ist. Trotzdem erhält sie nach der Trennung von ihrem Mann das Sorgerecht für Lara und ihre kleine Schwester – und damit die Möglichkeit, ihre Kinder zu behandeln wie ihr Eigentum, sich „wie eine Diktatorin“ aufzuführen. Das jagt den Mädchen Angst ein.

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Lara sehnt sich in ihrer Jugend nach Anerkennung, Unterstützung und Zuneigung, die sie von ihrer Mutter nie erfährt. Durch das Nicht-Essen erhofft sie sich eine Veränderung, „Vielleicht mag sie mich ja jetzt“, denkt sie still und heimlich, als sie mit 16 Jahren zwölf Kilo abnimmt und nur noch 53 Kilo wiegt. Seitdem steht die Zahl 50 für ihren größten Wunsch: Die 50-Kilogramm-Marke knacken. Wenn sie das schafft, prophezeit sich Lara, besteht sie auch ihr Abi. Zudem ist sie dann hübsch und endlich eine gute Tochter. „Dann ist alles perfekt.“ 

Nichts bringt sie der perfekten Zahl 50 näher

Wie eine Getriebene isst sie zum Teil mehrere Tage überhaupt nichts, steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um zehn Kilometer zu laufen gehen. Was sie isst, bricht sie anschließend wieder aus. Doch nichts scheint sie ihrem großen Traum, der perfekten Zahl 50, näherzubringen. Mit 18 zieht Lara in einer Nacht- und Nebel-Aktion dann aus, will sich so dem Druck ihrer Mutter entziehen. Doch das gelingt ihr nur scheinbar. Weiterhin vermeidet Lara es zu essen, sie sieht sich mittlerweile selbst durch die Augen der Mutter. In „Pro-Ana“-Foren, Websites, die Magersucht verherrlichen, tauscht sie sich mit Gleich- oder noch härter Gesinnten aus und versucht sich an „Anas“ Regeln zu halten, zum Beispiel „Ich werde alles tun, um dünn zu sein“. Jeden Tag nach der Schule verkriecht sich Lara schließlich unter ihrem Schreibtisch und weint.

Fressattacken nach tagelangem Hunger

Sie kann nicht mehr schlafen und hat große Angst, allein und im Dunkeln zu sein. Immer noch spürt sie den Druck der Mutter. Entgehen kann Lara ihm nur in der Schule – und bei ihrem Vater. Er ist zwar nicht ihr leiblicher Vater, doch Lara fühlt sich ihm bei ihm geborgen. Bei ihm ist Lara ruhig und fühlt sich sicher. Das führt allerdings auch dazu, dass sie dort immer in das andere Extrem fällt und nach tagelangem Hungern in Fressattacken fällt. Denn, wenn es ihr gut geht, isst sie. Wer sechs Tage am Stück gar nichts isst und dann in von 20 Minuten den gesamten Süßigkeitenvorrat, der kann diese plötzliche Belastung für den Magen nicht bei sich behalten. Lara ist in einem Teufelskreis von Fressen und Brechen gefangen.

Das andere „Zuhause“ für Lara ist die Schule. Obwohl sie sich unter Menschen und deren Blicken unwohl fühlt, findet sie Ruhe und Sicherheit im Lernen und vor allem in ihrem Klassenlehrer. Er gibt ihr das, was ihr bei ihrer Mutter immer gefehlt hat: Aufmerksamkeit, Unterstützung, Verständnis. In kleinen Schritten hilft er ihr, sich selbst zu helfen. In ihrem Buch, beschreibt Lara Brockhage ihre Krankheit mit all ihren Facetten. Denn es gehört viel mehr zur Bulimie, als „nur“ Essen in sich hineinzustopfen und wieder zu erbrechen. Verbunden mit der Krankheit sind auch die Einsamkeit, die Angst vor Spiegeln und stechenden Blicken, Schlafstörungen, Kälte, Gedächtnislücken und Depressionen – die Liste könnte noch lange so weitergehen.

Als Lara aktiv anfängt, Hilfe einzufordern, sind alle für sie da

Es sind bedrückende Szenen, die Lara nacherzählt, sowohl vom Leben mit der Krankheit als auch dem mit ihrer Mutter. Ehrlich, direkt und rücksichtslos schildert Lara ihre Erfahrungen aus dem Alltag, und doch gibt es immer einen Lichtblick. Der Lichtblick besteht aus allen Menschen, die für Lara da sind, die sie unterstützen oder einfach nur merken, dass da etwas nicht stimmt. Sei es der Lehrer, ihr Vater oder Ellen von der Beratungsstelle: Als Lara aktiv anfängt, Hilfe einzufordern, sind alle für sie da. Trotzdem liegt noch ein langer Weg voller bürokratischer und emotionaler Hürden vor ihr, doch diese meistert sie.

Heute, mit 23, weiß Lara, dass „Mia“ immer da sein wird. Aber sie wird nicht mehr über ihr Leben, über ihre Freiheit bestimmen. „Mia“ ist wie eine alte Freundin, die Trost und Kraft gespendet hat, aber irgendwann zu besitzergreifend wurde. Lara hat akzeptiert, dass die Bulimie immer ein Teil von ihr sein wird, aber eben auch nur das: ein kleiner Teil.

Buchtipp: Lara Brockhage: „Alles wird gut mit 50 Kilogramm – Bulimie und das, was ich lernte“, Mabuse-Verlag, 2017, 16,95 Euro.

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