Leben mit Sichelzellen-AnämieRegina träumt vom Tanzen

Lesezeit 7 Minuten
digas-158528739_MDS-KR-2018-07-23-71-135453112

Regina wird im Kölner Kinderkrankenhaus an der Amsterdamer Straße behandelt.

Regina träumt vom Tanzen. Doch das Mädchen muss sich ruhig verhalten, um eine hier kaum bekannte Krankheit in Schach zu halten: die Sichelzellen-Anämie.  In der Kölner Kinderklinik wird ihr geholfen.

  • [Lesedauer: rund 6 Minuten]

Regina ist ein selbstbewusstes Mädchen. Als Kleinkind war sie kräftig, erinnert sich ihr Vater. Heute ist sie eher zierlich. Im Ballettunterricht wird ihr das genutzt haben, doch auch den musste die Achtjährige aufgeben. Wie vorher schon die Yoga-Stunden und letztlich auch den Schulsport. Sie muss Anstrengungen vermeiden; sich an diese medizinische Anweisung zu halten, fällt dem lebhaften Kind nicht leicht. „Ich kann Spagat“, ruft sie, als das Stichwort „Ballett“ fällt, springt vom Stuhl auf, nimmt im Behandlungszimmer von Stephan Lobitz mühelos die Spreizposition ein und setzt sich ebenso schnell wieder hin.

Der Mediziner ist spezialisiert auf die Sichelzellenkrankheit, an der Regina leidet. Das Kölner Kinderkrankenhaus an der Amsterdamer Straße, in dem Lobitz als Oberarzt arbeitet, ist eine der größten Betreuungseinrichtungen in Deutschland für die Erkrankung, die auch Sichelzellen-Anämie (SCA) genannt wird und weltweit zu hunderttausenden von Todesfällen führt, hierzulande jedoch – auch unter Medizinern – weitgehend unbekannt ist.

Dabei handelt es sich um eine weltweit verbreitete, erbliche Erkrankung der roten Blutkörperchen. Bei der Sichelzellenerkrankung sind die roten Blutkörperchen nicht rund und geschmeidig, sondern sie nehmen unter Stress – das kann körperliche Anstrengung sein, frieren oder eine Erkältung – die Form von Sicheln an. Dann verklumpen sie, verstopfen Gefäße und verursachen Schmerzen. Von Nigeria, Kamerun, der Demokratischen Republik Kongo über Benin im Westen und das zentrale Afrika bis nach Uganda und Kenia im Osten zieht sich ein Gürtel über den Kontinent, in dem diese nicht-ansteckende Erkrankung gehäuft auftritt. 80 Prozent aller Fälle weltweit werden dort registriert. Das sind 160000 der weltweit angenommenen 200000 Todesfälle im Jahr.

Sichelzellen verstopfen die Milz

Akut sind mehr als drei Millionen Menschen an SCA erkrankt. Aber dies sind reine Schätzungen, denn auch im östlichen Mittelmeerraum kommt das Krankheitsbild vor und in Indien, wo es bisher nur unzureichend erfasst wird. Im westafrikanischen Nigeria, aus dem Reginas Eltern ursprünglich stammen, tragen 40 Millionen der rund 190 Millionen Einwohner das Gen. Zum Ausbruch kann die Krankheit kommen, wenn zwei Genträger gemeinsam ein Kind zeugen.

Meist verstopfen Sichelzellen schon nach wenigen Lebensmonaten die Milz, die auch der Bakterien-Abwehr dient. Die Folge können Pneumokokken-Infektionen sein, die zu Lungen-, Hirnhaut- oder Mittelohr-Entzündungen führen. Betroffene Kinder sollten deshalb vom dritten Lebensmonat an Penicillin nehmen. Die systematische Behandlung von SCA ist in Ländern wie Uganda, in denen Malaria, Tuberkulose und HIV die Haupt-Todesursachen sind und die an ihren Außengrenzen immer wieder in Bürgerkriege hineingezogen werden, völlig unterentwickelt. Sie verbirgt sich als eigentliche Ursache hinter Schlaganfällen, Lungenkrankheiten, Gehirnentzündungen und ist daher statistisch nur schwer zu erfassen.

Precious (liegend) mit anderen Kindern aus der Pflegeeinrichtung

Precious (liegend) mit anderen Kindern aus der Pflegeeinrichtung

Wenn Regina auf Precious (übersetzt die „Kostbare“) träfe, dann würde sie erschrecken. Precious aus Uganda ist all das widerfahren, was einem Kind geschieht, dessen Erkrankung, nicht wie bei Regina, rechtzeitig erkannt und konsequent medizinisch behandelt wird. Früh schon war klar, dass Precious krank ist. Finger und Zehen waren bei dem drei Monate alten Säugling geschwollen. In Precious Heimatland sind etwa acht Millionen Bewohner Träger der Krankheit.

Precious ist nach einem Schlaganfall stumm

Regina könnte heute nicht mehr mit Precious sprechen, selbst wenn die Kinder einander träfen. Sie hat bereits vier Schlaganfälle erlitten, kann sich kaum bewegen, ist schwach und spricht nicht mehr. Mit acht Jahren bekam sie ihren ersten Schlaganfall. Dennoch ging sie weiter zur Schule. Nach einem Sturz auf dem Flur wurde sie ins Krankenhaus gebracht. Das verschriebene Medikament konnte die Mutter sich nicht leisten und kein Arzt erklärte ihr, warum es lebenswichtig für die Tochter sei. Mit neun Jahren erlitt sie den zweiten Schlaganfall. „Ich bin gefallen und habe mich übergeben“; sagte sie zu ihrer Mutter. „Ich möchte schlafen“.

Danach hat Precious nie wieder gesprochen. In der Zwischenzeit erlitt sie noch zwei Schlaganfälle, einen weiteren wird sie nach ärztlicher Einschätzung nicht überleben. Zynisch betrachtet, ist Precious sogar noch weit gekommen. Sie ist 13 Jahre alt. Laut Unicef kommen in Uganda jährlich 33000 Kinder mit der Erkrankung zur Welt, und nur 22900 dieser Kinder erleben ihren fünften Geburtstag. Meist sind sie dann bereits schwerstbehindert.

Dr. Stephan Lobitz, Oberarzt am Kinderkrankenhaus

Dr. Stephan Lobitz, Oberarzt am Kinderkrankenhaus

Hat Regina einfach Glück gehabt, in Deutschland zur Welt gekommen zu sein und hier in einer Mittelschichtfamilie aufzuwachsen? Für den Mediziner Lobitz ist das eine zu starke Vereinfachung. Obwohl sie immer auch in Deutschland auftrat, sei die Krankheit lange ignoriert worden.

Erkrankungen werden nicht auf Anhieb erkannt

Die Medizinerin Roswitha Dickerhoff habe über Jahrzehnte für diese vernachlässigte Patientengruppe unermüdliche Pionierarbeit geleistet, sagt Lobitz. An der Universitätsklinik Düsseldorf habe es unter der Regie der Medizinerin eine der ersten Selbsthilfegruppen Deutschlands gegeben.

In Nigeria werde, berichtet er weiter, systematisch und landesweit über SCA informiert. Demgegenüber sei das Fachwissen in Deutschland immer noch gering. Genträgern würde nicht davon abgeraten, Kinder zu zeugen. Und Erkrankungen würden – so war es bei Regina – wegen falscher Diagnostik nicht auf Anhieb erkannt. Vor allem gebe es hier im Gegensatz zu England, Frankreich und den Niederlanden keine verbindlichen Routinetests auf Sichelzellenerkrankungen.

Sind sie jedoch diagnostiziert, greift das deutsche Gesundheitswesen. Erkrankte bekommen ihre Medikamente problemlos. Von deren Einnahme sowie der Lebensweise hängt es ab, ob die Sichelzellen Schaden anrichten. Nach heutigem Stand sei die Lebenserwartung von Erkrankten um 20 bis 30 Jahre reduziert, sagt Lobitz. In Deutschland stürben Kinder, weil die Erkrankung nicht diagnostiziert oder adäquat behandelt werde. Bis zu 5000 Patienten vermutet man hier, Tendenz steigend – jährlich werden 50 bis 100 Kinder geboren, die an der Erkrankung leiden.

Wie wichtig Aufklärung und Behandlung sind, davon weiß der deutsche Geschäftsmann Andreas Machnik zu berichten. Er erlebte in Uganda, wie einer seiner Angestellten kollabierte, nachdem er erst über Schmerzen und dann über Sauerstoff-Knappheit geklagt hatte. Es waren diese Erlebnisse, die den Manager aus der Erdöl-Branche dazu bewegten, eine Stiftung zu gründen und sich im Kampf gegen die Krankheit zu engagieren (msfug.org). Seitdem bauen Machnik und seine Frau, die mit ihren Töchtern in der Hauptstadt Kampala leben, in ihrer Freizeit mit Freunden und Partnern ein Netzwerk auf, das Erkennung, Beratung und Behandlung der Erkrankten sichern soll. Sie gehen in Schulen, um junge Menschen aufzuklären. Wenn zwei Träger des Sichelzellen-Gens ein Kind miteinander zeugen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit – 25 Prozent – dass bei ihrem Nachwuchs die Krankheit ausbricht, denn SCA ist eine rezessive Erbkrankheit. Machnik plädiert dafür, vor der Partnerwahl einen Test zu absolvieren. Dabei wird das Hämoglobin – es bindet den Sauerstoff – untersucht. Ein solches Analysegerät hat Machnik jetzt in Kampala in Betrieb genommen und ermöglicht damit Tests zum Selbstkostenpreis.

Tropfen auf den heißen Stein

Erkrankte können, wenn sie regelmäßig Medikamente nehmen und Grundregeln beachten, bis zu 50 Jahre alt werden, berichtet Alfred Kinzelbach von Malteser International, der in Uganda lebt und dessen Kölner Hilfswerk das katholische Lubaga Hospital in der Hauptstadt in der Erkennung und Behandlung der Erkrankung unterstützt. Jedes Neugeborene soll dort auf Sichelzellen getestet werden. Die Sprechstunde hat mehr als 150 regelmäßige Patienten. Doch ist das angesichts der Notlage nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.

Precious hat zumindest tagsüber Pflege. „Suubi Lyaffe“ heißt die Initiative, die sich in Entebbe um behinderte Kinder kümmert. Häufig werden diese in Afrika ausgesetzt oder weggesperrt. Im Haus gegenüber der Einrichtung, die ebenfalls von den Maltesern gefördert wird, gibt es eine Agentur, die junge, freiwillige Helfer aus den USA und Europa vermittelt. Diese jungen Menschen haben „Suubi Lyaffe“ ins Internet gebracht und nutzen dessen Möglichkeiten. Aoife Buckley, eine junge Krankenschwester aus Irland, schaffte es seinerzeit, Spenden für eine Operation zu sammeln, bei der einem 14-Jährigen ein entstellender Gesichtstumor entfernt wurde. Nun wird für Precious gesammelt. Doch ob eine Knochenmarktransplantation ihr noch zu helfen vermag, bezweifeln Fachleute – obwohl die Erfolgsrate hoch sei, wie Stephan Lobitz betont. Regina sei sicher eine Kandidatin, der geholfen werden könne. Sofern ein geeigneter Spender gefunden wird.

KStA abonnieren