Das Streitgespräch der WocheSollen Lehrer über die Schulwahl entscheiden?

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Szene aus dem Film „Frau Müller muss weg".

  • In NRW haben Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule das letzte Wort. Die Empfehlung der Grundschullehrer ist nicht bindend.
  • Gut so, findet Maria Dohmen. Vorausgesetzt Eltern es schaffen, sich nicht von ihrem persönlichen Ehrgeiz leiten zu lassen.
  • Überlassen wir die Einschätzung von Schulleistungen denen, die das gelernt haben, nämlich den Lehrern, findet Lioba Lepping.

Pro: Lehrer sind Experten und deshalb die besseren Entscheider

Es gibt vier Gymnasien in meiner Heimatstadt Bocholt im Münsterland. Jedes hat seinen speziellen Ruf: altmodisch, cool, elitär und das für diejenigen, die auf den anderen kein Abi bekämen. Jedes Kind kriegt den Platz, den es will – oder seine Eltern wollen. Außerdem gibt es einen gesunden Mix aus Real-, Haupt-, Gesamtschulen und Berufskollegs. Eine ideale Welt eben.

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Lioba Lepping, 46, Leiterin Stadtteilredaktion,  ist mit zwei Lateinlehrern in der Familie nicht unwesentlich vorbelastet.

Ich habe zahlreiche in den 60er Jahren geborene Freunde, die die klassische „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Karriere hingelegt haben. Viele von ihnen haben nach der Hauptschule eine Lehre gemacht, später Abi nachgeholt, studiert. Heute verläuft der Weg leider oft eher umgekehrt. Im Jahr 2016 mussten 2770 Schüler in NRW vor Vollendung der sechsten Klasse das Gymnasium wieder verlassen – weil die Zensuren zu schlecht waren. 2011 waren es nur 2190. Und demnach knapp ein Drittel weniger. Der Anstieg kam just zu dem Zeitpunkt, als Rot-Grün im Jahr 2010 den Eltern das letzte Wort über die schulische Zukunft ihrer Kinder zusprach.

Einmischungsdrang und Besserwisserei bringen unsere Kinder kein Stück weiter

Die Zahlen legen also nahe: Lehrer sind die besseren Entscheider. Was gar kein Wunder ist, schließlich verbringen sie werktags oft mehr wache Zeit mit unseren Kindern als wir selbst. Sie sind zudem fachlich und pädagogisch geschult, verfügen über jahrelange Unterrichtserfahrung: Sie sind schlicht Experten. Und die sollten wir zurate ziehen. Wenn ich Zahnschmerzen habe, gehe ich ja auch nicht zum Klempner. Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft: Überlassen wir die Einschätzung von Schulleistungen denen, die das gelernt haben. Einmischungsdrang und Besserwisserei bringen unsere Kinder kein Stück weiter.

Sicher: Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Weil sie ihm Chancen eröffnen wollen, die sie selbst vielleicht nicht hatten. Gerade deshalb sollten sie ihr Kind aber nicht sehenden Auges ins Messer des Misserfolgs laufen lassen. Angst vor Ansehensverlust sind schlechte Ratgeber bei der Schulwahl.

Es ist ein Irrglaube, dass nur das Abi das Lebensglück sichert

Auch der Irrglaube, dass nur das Abitur das Lebensglück sichert, führt mitunter zu traurigen Schulkarrieren. Vielleicht muss gar nicht jeder das Abi anstreben. In der Schweiz – wo Kinder bis zur sechsten Klasse gemeinsam lernen – legen nur rund 20 Prozent eines Jahrgangs die Matura (das Schweizer Abitur) ab. In Bayern, einem Bundesland mit bindender Gymnasialempfehlung, verlassen 31 Prozent die Schule mit der Hochschulreife. In NRW – ohne bindende Empfehlung – lag die Quote im Jahr 2016 bei knapp 45 Prozent. Vielleicht wäre der eine oder andere dieser überdurchschnittlich vielen NRW-Abiturienten glücklicher gewesen, hätte er sich auf den Weg gemacht, Dachdecker zu werden. Und nach der Berufsausbildung wäre er vielleicht so selbst-motiviert, Abi und Studium draufzusatteln?

Kind vor Versagenserfahrungen schützen

Ihr Kind liest nicht? Im Ranzen ist Chaos? Termine werden vergessen? Und Mathe ist ein Buch mit sieben Siegeln? Dann ist es auf dem akademisch ausgerichteten Gymnasium falsch. Elternpflicht wäre in diesem Fall, dem Kind die frustrierende Versagenserfahrung „Ich schaffe es nicht“ zu ersparen. Und sollte sich das Kind doch noch zu einem Mathe-Ass entwickeln: Der Wechsel von der niedrigeren auf die höhere Schulform kann ja wieder die Regel werden – und nicht die Ausnahme. Wie damals in den 80ern.

Contra. Zwang tut niemandem gut

Contra: Zwang tut niemandem gut

Wir sind umgezogen, der Sanitärmensch hat das Handwaschbecken im Gäste-WC falsch herum eingebaut. Der Naturstein-Restaurator hat Betonflecken auf dem frisch geölten Parkett hinterlassen. Der Schreiner, der die neue Haustür einbauen wollte, meldet sich nicht mehr. Ihr wollt alle Abitur? Warum? Gutes Handwerk ist gefragt, kann ich Euch sagen. Auch Euren Eltern. Das ist jetzt zu mittelmäßig, sicher. Denn es geht um das große Lebensglück. Die Mehrheit von uns Eltern, da schließe ich mich ein,  möchte seine Kinder  aufs Gymnasium schicken. Dass jemand anderes darüber entscheidet, wohin mein Sohn oder meine Tochter nach der Vierten  geht – undenkbar. Und das ist auch richtig.

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Maria Dohmen, 45, Ressortleiterin Magazin, hat drei Kinder im Grundschulalter. Richtig ernst mit Schulwechsel wird es erst nächstes Jahr.

Nordrhein-Westfalen geht grundsätzlich einen guten Weg damit, es bei einer Empfehlung für die weiterführende Schule zu belassen. Zwang tut ja bekanntlich  niemandem gut. Und wohin würde er führen? Letztlich nur zu mehr juristischen Verfahren, denn wenn es um die akademische Zukunft geht, sind Eltern wenig zimperlich. In Juristenkreisen gelten sie als kampfbereit und klagewillig – vom Kita- bis zum Studienplatz kann man theoretisch auch mit einem Rechtsanwalt am Arm durchmarschieren. Talent, Neigung, Belastbarkeit spielen da nicht unbedingt die Hauptrolle. Dass die Schuladministration Eltern grundsätzlich ein großes Mitspracherecht zugesteht, ist also gut und vernünftig.

Gemeinsame Entscheidung wäre ideal

In einer idealen Welt würden Lehrer und Eltern die Entscheidung ohnehin  gemeinsam treffen. Nach vier Jahren guter Kommunikation auf Augenhöhe. Nach vier Jahren Vertrauensaufbau und Partnerschaftlichkeit. Dass fast jeder Beispiele von Ungerechtigkeit, mangelnder Erfahrung, krasser Fehleinschätzung, schwacher Begleitung kennt – geschenkt, Stichwort Mensch. Sowieso wird es schwer, bei enttäuschender Empfehlung Misstrauen und persönliche Empfindlichkeit außen vor zu lassen, wenn das Verhältnis konfliktbeladen ist. Gymnasium nur für die anderen wird dann zum nächsten Affront. Erst recht, wenn das Lehrerurteil bindend wäre.

Mehrbelastung am Gymnasium

Eltern sollten sich ihrer großen Verantwortung allerdings bewusst sein und jenseits persönlichen Ehrgeizes bedenken: Gymnasium – das ist ein ganz anderer Schnack als Grundschule. Die Mehrbelastung ist in den ersten Stufen oft enorm. Sicher lässt sich vieles ziehen, zerren und zurechtfördern. Aber wenn ein Kind in den unteren Klassen scheitert, kann das ein Trauma sein. Zudem mutmaßlich der Endpunkt von viel Familienknatsch, Streit, Enttäuschungserlebnis, Versagensgefühl, Traurigsein. Ein Abstieg.

Dass es aus den ungeliebten Schulformen Haupt- und Realschule und auch danach aber ebenso einen Aufstieg geben kann, der im Zweifel positiver für das Kind   verläuft – darüber scheinen sich viele nicht im Klaren zu sein. Eine große Errungenschaft der jüngeren Bildungsgeschichte ist die Durchlässigkeit des Systems. Niemand ist auf immer festgetackert. Die Wege zum Studium sind so vielfältig wie nie.

Wechsel nach der 6. Klasse

Dürfte ich einen Verbesserungsvorschlag machen, ich würde für die Übernahme des Berliner Modells plädieren: Dort steht der Schulwechsel erst nach der sechsten Klasse an. Kinder, Eltern – alle sind da schon einen gehörigen Schritt weiter.

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