Ex-Profi Marcel Kittel über depressive Phasen„Ich konnte mein Rennrad nicht anfassen“

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Marcel Kittel im Trikot von Katusha-Alpecin

Köln – Herr Kittel, Sie sind 33 Jahre alt, und  Sie waren bei der Tour de France mit 14 Etappensiegen der erfolgreichste deutsche Sprinter. Sie sind nun bereits seit zwei Jahren im Leistungssport-Ruhestand. Vermissen Sie den Radsport?

Ich habe einen großen Abschnitt in meinem Leben beendet und befinde mich im nächsten. Ich sitze immer noch auf dem Rad, nun aber gemäßigt und entspannt in meiner Freizeit. Das sind jetzt Genießer-Fahrten. Ich habe mich für mein Gefühl in meinem Leben genug auf dem Rad gequält. Die Leistungssportwelt habe ich gesehen und erlebt. Ich kann mit einem Gefühl von Stolz zurückblicken auf das, was ich erreicht habe. Ich bin mit mir im Reinen und froh, dass ich dieses Kapitel  abschließen konnte. Das Schlimmste, finde ich, wäre gewesen, wenn ich gesagt hätte: »Ich beende meine Karriere – und will dann doch wieder zurück.« Das wird nicht passieren. Ich schaue mir Rennen mit einem guten Gefühl an und denke keine   Sekunde daran, dass mein Rücktritt ein Fehler gewesen sein könnte.

Sie haben zusammen mit  Stephan Klemm vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein Buch mit dem Titel »Das Gespür für den Augenblick« geschrieben, das am 1. September erscheint. War es Ihre Idee?

Nach dem Karriereende habe ich mir erst einmal etwas Zeit für mich genommen und geschaut, was ich machen möchte. Aus Spaß habe ich damals zu meinem Freund und Manager Jörg Werner gesagt: »Ich müsste jetzt eigentlich ein Buch schreiben.« Tatsächlich wurde daraus dann eine realistische Chance. Und ich habe mich dafür entschieden, weil ich glaube, dass in meiner Karriere viele Dinge passiert sind, die auch für andere Sportler und Menschen relevant sein können. Mir lag vor allem daran, alles  offen und ehrlich aufzuschreiben, wie ich es aus meiner Perspektive erlebt habe.

Zu Person und Buch

Marcel Kittel, geboren am 11. Mai 1988 Arnstadt (Thüringen), verheiratet mit der ehemaligen niederländischen  Profivolleyballerin Tess van Piekartz, zwei Kinder (Lex 20 Monate, Lizzy  drei Monate),  gewann als Sprinter 89 Profi-Radrennen, darunter 14 Etappen bei der Tour de France (deutscher Rekord) und  vier beim Giro d’Italia. Karriere-Ende im August 2019 mit 31 Jahren.

Das Buch: Marcel Kittel mit Stephan Klemm: Das Gespür für den Augenblick. Mein Weg in den Profiradsport und wieder hinaus. Malik-Verlag, 320 Seiten,  22 Euro.

Lesung: 15. September, 19.30 Uhr, Brotfabrik Bonn, Kreuzstraße 16, 53225 Bonn.  (ksta)

Was ist die Grundthese Ihres Buchs?

Es geht um die vielen Facetten, die ein Sportler im Rahmen seiner Karriere  durchlaufen kann. Die schönen Momente, die ich erleben durfte, mit den vielen Siegen. Aber auch die tristen Augenblicke, als mir einfach nichts mehr gelingen wollte. Solche Phasen hatte ich aus verschiedenen Gründen 2015 und 2019. Das hat mich sehr geerdet und sehr nachdenklich gestimmt. Und genau das – diese beiden Pole – möchte ich der nächsten Generation vermitteln.

Damit sprechen Sie die  Drucksituationen an, die zum Profisport dazugehören und von denen im Buch auch die Rede ist. Bei den Olympischen Spielen in Tokio hat die US-Turnerin Simon Biles einen Wettkampf wegen mentaler Blockaden abgebrochen. Konnten Sie das nachvollziehen?

Absolut. Die Olympischen Spiele waren der größte Moment der Saison, auf den sich Simone Biles jahrelang vorbereitet hat. Sie ist ein Aushängeschild ihrer Sportart. In diesem Moment festzustellen, dass es nicht läuft, dass sie den Druck zu sehr spürt und deshalb den Wettkampf abbrechen muss, fand ich unheimlich stark. Dieses Feedback hat sie ja auch weltweit bekommen. Es war ein Schritt, der in dieser Form neu war. Ich glaube, damit ist sie über den Sport hinaus ein Vorbild geworden. Es ist für mich letzten Endes eine Bestätigung dessen, was auch ich erlebt habe. In der Leistungssport-Welt ist nicht alles toll und schön. Es gibt auch Momente, auf denen kein Instagram-Filter liegt. Man hat Kämpfe mit sich selbst auszutragen, die sehr emotional sind. Das hat nicht direkt mit Sport zu tun, sondern mit Entwicklungen, die man verdauen muss, um danach den nächsten Schritt machen zu können. Die Zeit muss man sich nehmen.

Die Zeit haben Sie sich auch genommen, als sie 2015 erstmals in eine Krise geraten sind. Ihnen wurde  klar, dass dieses Tief nicht nur körperliche Ursachen hatte. Ist das in Ihrem damaligen Team Giant-Alpecin aufgefallen? Gab es psychologische Betreuung?

Die gab es in meiner Karriere nur im Team Quick Step, für das ich 2016 und 2017 gefahren bin. Deshalb bin ich 2015 selbst aktiv geworden und habe mir psychologische Unterstützung organisiert. Das war für mich ein Werkzeug. Wenn ich festgestellt habe, dass es mir beschissen geht, wusste ich, dass ich mental dringend einen Weg herausfinden musste. So rational konnte ich sein. Ich habe die Betreuung  außerhalb der Mannschaften gesucht, vor allem auch deshalb, weil es eine Vertrauenssache ist. Das hat mir geholfen, meine Gedanken zu ordnen, sie zurecht zu rücken und  Dinge zu ändern. Mir geht es heute sehr gut. Ich bin immer aus den schweren Momenten, in denen ich einfach nicht mehr vorwärts kam, in denen ich gezweifelt habe, herausgekommen. Es gab Augenblicke, in denen konnte ich mein Rennrad nicht anfassen. Das war vielleicht etwas, das man mit Burnout oder einer depressiven Phase beschreiben könnte. Ich habe mir damals, zunächst 2015 und dann wieder 2019, daher bewusst psychologische Hilfe genommen. Und ich habe gelernt, dass ich auf mich und mein Herz hören muss.

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Beim Team Katusha, Ihrer letzten Karrierestation, war Erik Zabel Ihr Performance-Manager. Sie hatten zu ihm ein kompliziertes Verhältnis und betonen an einer Stelle im Buch, dass Sie 14 Etappen bei der Tour gewonnen haben, zwei mehr als Zabel. Und zwar sauber, ohne Epo und Blutdoping wie er. Darf man das als Nachtreten verstehen?

Ich habe keine Intention, in irgendeiner Form nachzutreten. Ich habe 14 Tour-Etappen gewonnen – ohne Blutdoping und Epo. Das ist ein Fakt. Erik Zabel und ich kommen aus unterschiedlichen Ecken in Bezug auf unsere Sportansichten, es hat sich deshalb in dieser Zeit über die Monate eine emotional angespannte Situation aufgebaut. Es geht in diesem Abschnitt des Buchs vor allem um Vorstellungen, wie Sport zu betreiben ist. Nicht um Doping, sondern um neue, moderne Ansätze, um die Methoden von heute und von vor 15 Jahren. Ich möchte meine Geschichte, mein Erlebnis und mein Empfinden teilen, denn das sind Dinge, die mich geprägt haben.

Wie sehen Sie die aktuelle Situation im Profi-Radsport in Bezug auf  Ehrlichkeit?

Es ist das ewige Drama des Radsports, die Doping-Skandale haben sehr viel Enttäuschung erzeugt bei Fans und Unterstützern. Und letzten Endes auch bei den Sportlern, weil die ganzen Geschichten auf alle Beteiligten Auswirkungen gehabt haben. Ich habe dieses Thema auch im Buch besprochen und ganz klar erklärt, dass ich niemals gedopt habe. Doping ist aber etwas, das dem Radsport für immer anhängen wird. Der Radsport muss sich bewusst sein, dass er Verantwortung für sauberen Sport und Transparenz tragen muss. Das möchte ich vor allem jungen Fahrern vermitteln, die womöglich mal in Versuchung geraten: Lasst es! Als Sprinter kannst du auch sauber Erfolg haben. Dafür bin ich ein Beispiel.

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Ex-Radprofi Marcel Kittel

Würden Sie sagen, der Radsport hat dennoch weiter ein Glaubwürdigkeitsproblem?

Es ist noch da. Aber damit kämpft nicht nur der Radsport. Man hat bei Olympia gesehen, dass Doping ein generelles Leistungssport-Problem ist. Man wird auf den Betrug auch nicht die eine erlösende Antwort finden, weil es ein menschliches Problem ist. Jeder muss sich selbst die Frage stellen: Wie weit kann man den eigenen Idealen folgen und unter höchstem Druck dem sauberen Sport treu bleiben? Ich will nichts beschönigen, aber ich denke, der Trend im Radsport geht weg von den ganz großen Dopingskandalen hin zu einem Sport, der immer noch mit diesen Diskussionen leben muss, gleichzeitig aber im Anti-Dopingkampf einige Schritte nach vorn gemacht hat.

Ist Ihr Buch ein Beitrag zur Steigerung der Glaubwürdigkeit Ihres Sports?

Nein. Mein Buch richtet sich an ein sportinteressiertes Publikum und beschreibt eine Karriere mit Höhen und Tiefen. In Dopingfragen würde ich für niemanden die Hand ins Feuer legen. Natürlich gibt es Leute, denen ich vertraue. Aber am Ende müssen die Fans und Sponsoren kritisch sein und kritisch bleiben, auch die Journalisten. Und im Notfall Druck aufbauen – in Situationen, in denen es merkwürdige Leistungen gibt. Auch bei einem kritischen Blick bleibt die Faszination des Radsports erhalten.

Sie wohnen noch in der Schweiz und kündigen in Ihrem Buch an, dass Sie im Oktober nach Holland, das Heimatland Ihrer Frau, umziehen werden. Wie kam es dazu?

Jeder, der einmal im Holland-Urlaub war, kennt diese lockere Lebensart. Es ist eine andere Mentalität, eine positive Einstellung, die Holländer lieben ihre Freiheit und leben sehr bewusst. Ich wünsche mir auch für meine beiden   Kinder, dass sie auf diese Weise aufwachsen. Wir ziehen in den Osten von Holland. Das ist nicht weit von der Grenze, so dass ich schnell bei meinen Eltern in Thüringen sein kann.

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