Viva Colonia im EiskanalWie die Kölnerin Leonie Fiebig zur besten Anschieberin der Welt wurde

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Leonie Fiebig, der WM-Pokal und die Kölner Fahne in St. Moritz

Leonie Fiebig, der WM-Pokal und die Kölner Fahne in St. Moritz

Für ihre Verbundenheit zur Stadt ihres Herzens muss die Bobfahrerin aus dem Rheinland große Entbehrungen auf sich nehmen.

Die junge Frau mit den langen braunen Haaren sitzt in ihrer Stammkneipe „Joode Lade“ im belgischen Viertel und blickt auf einen Bierdeckel, auf dem sie sich selbst entgegenlächelt. Das Trinkutensil ihres Werbepartners Gaffel zeigt, wie sie sich rot-weiße Socken mit Emblemen ihrer Heimatstadt überstreift. Daneben steht: „Das kölsche Heimatgefühl fährt immer mit.“ Darunter: „Leonie Fiebig, Bobfahrerin und Studentin“. Was da nicht steht: Leonie Fiebig, Weltmeisterin. Anfang Februar hat sie mit Kim Kalicki an den Lenkseilen auf der Natureisbahn in St. Moritz den WM-Titel gewonnen.

Eine Geschichte zu erzählen, in der die Begriffe Köln, Bob und Weltmeisterin vorkommen, ist nur möglich als Aneinanderreihung von Unglaublichkeiten. Was geschehen musste, damit die diplomierte Sportwissenschaftlerin aus dem Rheinland am 4. Februar 2023 mit der Pilotin Kim Kalicki in St. Moritz im Alter von 32 Jahren Weltmeisterin im Zweierbob wurde, hat es so zuvor im Bobsport noch nicht gegeben. Und auch anderswo nicht. „Bei mir weiß man eh nie“, sagt Leonie Fiebig erklärend und lacht laut, „es läuft eh nie nach Plan bei mir.“

Der Plan war eigentlich, dass Leonie Fiebig Turnerin wird. Dann kam die Pubertät, es passte mit den Körpermaßen nicht mehr und sie wurde Leichtathletin. Eine gute. Mit der DSHS Köln, dem Team der Sporthochschule, erreichte sie in der Sprintstaffel den Endlauf bei den Deutschen Meisterschaften. Schließlich kam das Studium der Sportwissenschaften dazwischen und die Kölnerin konzentrierte sich ganz auf den akademischen Weg. Der führte sie im Alter von 26 Jahren für ein Projekt an einen Eiskanal.

„Da habe ich die Bobfahrer gesehen, die Figur, die Größe und dachte: Eigentlich musst du da reinpassen. 24 Stunden später stand ich an der Anschubbahn. Durch die Vorausbildung der Leichtathletik, meine Statur und ein gewisses Talent hat es geklappt. Ich hatte immer gesagt: Profi-Sportlerin kommt für mich gar nicht in Frage. Soldatin bei der Bundeswehr auch nicht. Jetzt bin ich beides. Und dankbar dafür.“

Das ist der Preis, den ich dafür bezahle, um in Köln Bobfahrerin sein zu können
Leonie Fiebig

Die Sportfördergruppe in Warendorf garantiert Stabsunteroffizierin Fiebig die Absicherung des Mindestlebensstandards als Top-Athletin. Den Rest muss sie sich selbst organisieren, denn es gibt in ihrer Karriere einen Faktor, der alles kompliziert: Die Stadt des Herzens. „Ich könnte nach München oder nach Winterberg oder nach Paderborn, wo mein Trainer ist. Aber mir gibt Köln zu viel. Da fahre ich dann eben jede Woche zwei Stunden nach Winterberg. Oder zwei Stunden zu meinem Trainer“, sagt Leonie Fiebig, „ich gehöre keiner Trainingsgruppe an. Ich mache mehr oder weniger alles alleine. Das ist der Preis, den ich dafür bezahle, um in Köln Bobfahrerin sein zu können.“

Die Insignien der geliebten Stadt nimmt die Weltmeisterin auf alle Bob-Bahnen dieser Welt mit. Nach Whistler, Park City, Lake Placid, Peking, Innsbruck, St. Moritz und wo immer es einen Bob anzuschieben gibt. Die weißen Wettkampf-Spikes mit Unterschriften von Verwandten, Freunden und Kölner Persönlichkeiten, die rot-weißen Socken, der Biber, der „Viva Colonia“ singt und die kölsche Flagge sind überall dabei. „Das gibt mir ein Gefühl von Zuhause“, sagt die Athletin, die ihr Heimatgefühl so beschreibt: „Ich fühle mich einfach wohl hier. Die Menschen, die Offenheit, den Dom. Welche Stadt hat schon eigene Lieder? Ich liebe es, zu reisen. Ich war sehr viel im Ausland. Aber ich komme immer sehr gern hierher zurück. Ich wohne in der Innenstadt, direkt am Bahndamm. Da höre ich die Güterzuge, die Menschen, den Trubel. Und wenn ich dann als Athletin wieder auf viel verzichten muss, habe ich das Gefühl, ich bin trotzdem ein Teil davon.“

Das sind Momente, in denen man im Gespräch sicherstellen muss, dass es sich bei Leonie Fiebig nicht um einen Avatar des Fremdenverkehrsamtes Köln handelt, der einem von einer künstlichen Intelligenz in die eigene Wahrnehmung geschmuggelt wurde. Aber das Lachen, mit dem sie ihre Liebeserklärungen unterbricht, würde die Matrix nicht so echt und erfrischend hinbekommen.

Außerdem hat Köln auch seine gemeinen Seiten, wenn im Winter wieder alle Laufbahnen gesperrt sind. „Dann klettere ich schon mal über Zäune“, erklärt sie. Besonders schlimm waren die Corona-Jahre. Als trotz Olympiastützpunkt und Sporthochschule für Leonie Fiebig als Weltklasseathletin mal wieder kein Kraftraum frei war, ist sie an einem Tag in drei privaten Fitness-Studios gewesen. In einem fehlten die nötigen Geräte, aus einem anderen wurde sie rausgeworfen, als sie ihre krachenden Sprungübungen gemacht hat und das dritte schloss irgendwann. „Dann stehst du in Köln an einer viel befahrenen Hauptstraße und machst deine Medizinballwürfe, weil da wenigstens 20 Meter Luft nach oben ist. Aber ich will mich einfach nicht beschweren, weil ich auch woanders meine Zelte aufschlagen könnte. Und das will ich nicht.“

Warum Mama und Oma im Winter die Bahn freischaufeln müssen

Und zur Not gibt es da auch noch die Bahn an der Schule in Lohmar, wo sie aufgewachsen ist. Dafür hat die Familie einen Schlüssel organisiert. Und wenn wie an Weihnachten 2022 wieder alle Stricke reißen, schaufelt Leonie Fiebig mit Mama und Oma einfach den Schnee vom Tartan und rennt dann mit langen, kräftigen Schritten die Spur hinunter. Es ist wichtig, klarzustellen, dass hier von der womöglich besten Bob-Anschieberin der Welt die Rede ist. 180 Zentimeter und 70 Kilogramm pure Kraft und Explosivität. Weltmeisterin in einer Hochleistungssportart, in der es von Ex-Weltklassesprinterinnen nur so wimmelt. Gemacht in Köln und Umgebung nach einer Idee von ihr selbst.

„Was ich am meisten schätze ist es, ein Ziel zu haben und auf dem Weg dahin ein Netzwerk aufzubauen. Das ist komplettes Teamwork. Wie kann ich zur besten Anschieberin der Welt werden? Es ist keine Einzelleistung“, sagt die Sportwissenschaftlerin , deren Leistungen in der Regel eher unbeachtet bleiben. Unter dem Helm sieht sie aus wie alle anderen Anschieberinnen. Ihre Leistung ist erbracht, wenn die Uhr nach den gut fünf Sekunden der Anschubphase stehenbleibt und sie im Schlitten kauert. „Ich bin zufrieden, so wie es ist. Aber wie oft habe ich gelesen: Kalicki holt Gold bei der WM. Und ich denke: Voll gemein, denn ich war auch am Start. Und wir hätten nichts liegenlassen dürfen. Eine Hundertstel langsamer am Start, und wir hätten es nicht gewonnen.“

Am Ende des Gesprächs liegt Fan-Post auf dem Tisch. Der Wirt hat sie gebracht, denn Leonie Fiebigs Autogrammadresse lautet: Joode Lade, Lindenstraße 62, 50674 Köln.

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