Ton Steine Scherben„Wir waren ein Abenteuer“

Die Scherben im Jahr 2014. Vorne sitzend R.P.S. Lanrue und seine Tochter
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Herr Lanrue, 29 Jahre nach der Auflösung der Ton Steine Scherben gehen sie wieder gemeinsam auf Tour. Was hat sie dazu bewogen?
R.P.S. Lanrue: Die Lust am Spielen. Außerdem: die Aktualität und Brisanz der Texte. Die erste Tour war ein Test, aber der ist gut gelaufen. Wir werden jetzt auch Songs spielen, die wir mit den Scherben live nicht gespielt haben.
Welche Songs haben Sie denn früher auf Konzerten ausgelassen?
Lanrue: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ haben wir seit 1971 nicht mehr gespielt.
Warum?
Lanrue: Weil es, kaum hatte ich den ersten Ton gespielt, schon Krawall gab. Die Leute sind völlig ausgerastet. Wir konnten das nicht mehr verantworten.
Jetzt steht ihre Tochter mit auf der Bühne. Die hat wohl eine ganz andere Perspektive auf die Stücke?
Lanrue: Wenn es in „Wir müssen hier raus“ heißt: „Mein Alter hängt abends in der Kneipe und säuft“, kann sie das zum Glück nicht nachvollziehen! Aber sie singt „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – das kommt richtig gut.
Könnte der Song auch heute entstanden sein?
Lanrue: Ich finde der ist wieder total aktuell: „Die Chefs schützen, die Aktien schützen, das Recht schützen, den Staat schützen. Vor uns!“ Das hat absolute Brisanz.
Die Band gründete sich 1970 in Berlin, im Mittelpunkt standen R.P.S. Lanrue und Rio Reiser. Mit Liedern wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und dem „Rauch-Haus-Song“ wurden Ton Steine Scherben zum Sprachrohr der linken Hausbesetzerszene.
1975 zog sich die Band ins nordfriesische Fresenhagen zurück, zehn Jahre später löste sie sich auf, Reiser begann seine Solokarriere. 1996 starb er an den Folgen seiner langjährigen Alkoholsucht.
War es das Lebensprojekt der Scherben, nach einem anderen Ort zu suchen? Einen, an dem es einem nicht so dreckig geht?
Lanrue: Das kann man so sagen. Man braucht Utopie. Und Fresenhagen war ja eine Utopie. Da haben wir versucht zusammen zu leben und zu arbeiten, Kommune und Kreativität zu verbinden. Das war für eine alternative Band schwierig. Wir hatten ja keine Unterstützung von der Plattenindustrie. Dafür mussten wir bezahlen.
Über die finanziellen Schwierigkeiten der Band ist viel geschrieben worden. Aber was ist Ihnen damals gelungen?
Lanrue: Geld zu machen war nicht das Ziel. Wir waren keine Band im klassischen Sinn, sondern stets mit unheimlichen vielen Leuten unterwegs. Wir waren eher ein Abenteuer. Wir haben in Häusern gewohnt, die wir selbst besetzt hatten, und das hat auch funktioniert. Es gibt ja heute noch besetzte Häuser, die ihr 40-jähriges Bestehen feiern und uns einladen.
Aber Sie sind 1975 von West-Berlin nach Fresenhagen in die nordfriesische Provinz gezogen, weil sie nicht mehr die Posterboys der Hausbesetzer-Szene sein wollten?
Lanrue: Wir konnten in Berlin nicht mehr kreativ sein. Das war ja eine offene WG, da gingen ständig Leute ein und aus. Das urbane Leben war für uns zu aufregend. Wir brauchten eine neue Perspektive. Fresenhagen, das war genau das Gegenteil. Da habe ich auch mal eine Kuh kennengelernt oder ein Pferd (lacht). Und für zwei Schallplatten lang hat uns das inspiriert.
Die sogenannte Schwarze Platte, ihre schönste!
Lanrue: Das ist auch meine Lieblingsplatte.
Früher bewahrten Sie darüber Stillschweigen. Können Sie jetzt beschreiben, auf welch ungewöhnlichen Weg die entstanden ist?
Lanrue: Ich war mit Rio und Hannes Eyber in der Toskana, da haben wir bei Rotwein ein wenig rumgesponnen, dass wir ein Konzeptalbum aufnehmen wollen. Dazu brauchten wir ein Ritual und haben dann Tarot-Karten gezogen. Das war auch das erste Mal, dass wir Texte im Kollektiv geschrieben haben. Wir sind sehr spielerisch an die Sache rangegangen. Das war so nur in Fresenhagen möglich.
Spielerisch, aber nach Regeln, an die sie sich strikt gehalten haben?
Lanrue: Rio war Steinbock, ich bin das auch: Wir haben das Tarot-Ritual konsequent durchgezogen.
Der Kern der Scherben, das war die Freundschaft zwischen Ihnen und Rio Reiser. . .
Lanrue: Kann man so sagen, ja.
Wie sind sie sich begegnet?
Lanrue: Ich bin aus Frankreich nach Nieder-Roden gekommen, einem kleinen Dorf bei Frankfurt. Rio und ich fuhren jeden Tag mit demselben Zug nach Offenbach, da machten wir beide eine Lehre. Ich hatte schon in zwei, drei Bands gespielt. Als ich einen Sänger und Gitarristen suchte, empfahl mir ein Freund Rio. Also bin ich eines Samstags zu ihm hin, er wohnte nur 150 Meter Luftlinie entfernt. Ich fragte ihn, ob er mir „Play With Fire“ von den Stones vorspielen kann, und das konnte er perfekt. Eine Woche später hatten wir unseren ersten Auftritt im Schwesternhaus Nieder-Roden. Seitdem, bis zu seinem Tod 1996, haben wir zusammen gewohnt und zusammen gearbeitet. Das war schon eine exorbitante Freundschaft.
Hatte diese Beziehung Höhen und Tiefen, hat sie sich verändert?
Lanrue: Ich bin 1988 aus seinem Soloprojekt ausgestiegen. Aber wir wohnten weiterhin zusammen. Das Business hatte ihn ein wenig verändert. Es lief nicht so, wie er sich das gedacht hat. Er war nicht der einfachste Mensch, aber das war ich auch nicht. Im Großen und Ganzen haben wir uns immer gut verstanden, obwohl wir total unterschiedlich waren. Aus dieser Spannung ist eine besondere Chemie entstanden. Wir sind ja sogar noch zusammen in Urlaub gefahren.
Wo lagen denn die Unterschiede?
Lanrue: Rio war evangelisch, ich katholisch. Er hat mir immer erklärt, er wäre lieber katholisch gewesen. Er war Deutscher, ich Franzose. Er stand auf die Beatles, ich auf die Stones. Wir haben uns ergänzt, konnten gut und schnell zusammen einen Song schreiben.
Von der Bedeutung her stehen die Scherben auf einer Stufe mit Can, Kraftwerk und Neu! – aber die waren nicht so sehr auf die Sprache angewiesen, sind im Ausland bekannter. Haben Sie das je bereut?
Lanrue: Nein, überhaupt nicht. Can haben wir als eine der besten Bands respektiert. Was wir alle gemeinsam hatten, war ein jeweils ganz bestimmter Sound. Man hört sofort, wenn es Kraftwerk ist, man hört es auch sofort bei den Scherben. Vielleicht wurden wir auch deswegen nie im Radio gespielt, weil das so emotional besetzt war.
Nachdem ihr Manager 1971 in der WDR-Talkshow „Ende offen“ den Tisch mit einem Beil zertrümmerte, waren sie in den Medien tabu.
Lanrue: „Macht kaputt“ war schon vorher verboten, weil es angeblich ein Aufruf zur Gewalt war, das ist natürlich lächerlich. Aber nach der Talkshow standen wir auf der Schwarzen Liste. Der WDR war ja ein mächtiger Sender. Ob uns das geschadet hat, kann ich nicht beurteilen. Im Radio wurden wir erst viel später wieder gespielt, im historischen Kontext.
Weil die Gefahr gebannt war?
Lanrue: Ja. Heute sehe ich die Scherben fast wöchentlich in irgendeiner Sendung auf Phoenix. Und es gibt über Tausend Bands, die Scherben-Songs gecovert haben. Dafür, dass wir nie Musik für Musiker gemacht haben, ist das doch eine erstaunliche Geschichte.