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Auch negative EffekteBeweglichkeit trotz Parkinson – kann Placebo Wunder wirken?

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Wirkt Placebo? Ja und nein. Wir haben uns das Thema genauer angesehen.

  1. Durch Placebo-Medikamente fühlen sich Patienten zwar oft geheilt. Die medizinischen Werte sagen jedoch in vielen Fällen etwas anderes.
  2. Wir haben uns das Thema mal genauer angesehen – und festgestellt: Die Wirkung kann erstaunlich sein, positiv wie negativ. Vor allem aber hängt sie von Patient und Krankheit ab.

Eindrucksvoller wurde die Macht eines Placebos selten demonstriert – zumindest auf den ersten Blick: Schon eine Spritze Wasser, so konnte vor fast 20 Jahren der Spanier Raul de la Fuente-Fernandez zeigen, kann Parkinsonpatienten Kraft und ein Stück Beweglichkeit zurück schenken. Bei der Krankheit scheitern die Zellen in der Hirnregion Substantia Nigra an der Aufgabe, ausreichende Mengen des Botenstoffs Dopamin zu bilden. Weil der unter anderem dabei hilft, Muskeln und Rückenmark die Bewegungspläne des Gehirns zu übermitteln, verlieren die Betroffenen zunehmend die Befehlsgewalt über ihren Körper. Sie zittern beim Greifen, können nur schwer den einen Fuß vor den anderen setzen, manchmal friert der Körper bis zur Bewegungslosigkeit ein.

Aus dieser Starre lassen sie sich durch das Medikament Apomorphin manchmal wecken, es imitiert die Wirkung von Dopamin. Mit einem Placebo sind manche Patienten, so zeigte der Wissenschaftler an der Universität Vancouver, fast genauso gut bedient – weil die Scheinbehandlung im Gehirn die eigene Dopaminproduktion wieder anschmeißt.

Auf den zweiten Blick offenbart sich allerdings: Die Sensation zeigt sich nur bei einer Minderheit der Patienten, die Mehrheit reagiert deutlich schwächer auf das Scheinmedikament. Bei anderen will es überhaupt nicht helfen. Und das Originalpräparat wirkt auch dreimal länger.

Wirkung nicht bei jedem gleich

„Der Placebo-Effekt hat ganz klar seine Grenzen“, sagt Karin Meißner vom Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. So kann man, wie das Beispiel zeigt, sich nicht darauf verlassen, dass er bei jedem sein volles Potenzial entfaltet.

Vor einem Jahrzehnt hat die Medizinerin selbst noch alle Hoffnungen auf den Einsatz von Scheinmedikamenten gesetzt. Inzwischen ist sie auch ein Stück weit ernüchtert zu neuen Ufern aufgebrochen und beschäftigt sich am Lehrstuhl für Integrative Medizin in Coburg damit, wie sich echte und vorgetäuschte Therapien unter einen Hut bringen lassen.

Wunder mit Scheinmedikamenten?

Bis vor acht Jahren dachte man zum Beispiel, es ließen sich mit Scheinmedikamenten bei Asthma wahre Wunderdinge erreichen. Wenn die Patienten nur glaubten, ein Mittel würde ihnen wieder zu mehr Luft verhelfen, schien auch einfacher Milchzucker ihre verengten Bronchien zu weiten. Michael Wechsler von der Harvard Medical School schaute sich das 2011 genauer an. Und verglich nicht nur echtes Asthma-Spray, eine wirkstofflose Inhalation und eine Schein-Akupunkturtherapie, die die Nadeln nicht gemäß Lehre setzte; er stellte diesen drei Probandengruppen noch eine vierte gegenüber, bei der gar nichts unternommen wurde.

Und siehe da: Egal ob Schein-Akupunktur, echtes oder unechtes Spray, es ging nicht nur allen Patienten besser, sie gaben auch stets an, wieder besser Luft zu bekommen. Objektiv gemessen hatte aber nur das wirkstoffhaltige Spray die Bronchien erweitert. Wechsler ging sogar soweit, die Kollegen davor zu warnen, den Auskünften ihrer Patienten zu sehr zu vertrauen. Denn offensichtlich seien die nicht in der Lage, ihrem Körper richtig zuzuhören. Auch andere Studien deuten daraufhin: Kaum werden unbestechliche, harte Messwerte ins Auge genommen, scheint dem Placeboeffekt plötzlich die Kraft auszugehen: Änderung von Blutwerten wie Cholesterin, Kalium oder Erythrozytenzahl nach Gabe von Scheinmedikamenten? Fehlanzeige. Auch auf Röntgen- oder Ultraschallbildern lässt sich seine Wirkung kaum festhalten.

Herzfrequenz, Magenbewegung und Blutdruck ändern sich

Immerhin: Herzfrequenz, Magenbewegung und Blutdruck bleiben auch von einer vorgetäuschten Therapie nicht unbeeindruckt. Was für Karin Meißner dafür spricht, dass es schon die Erwartung einer solchen Änderung reicht, damit das autonome Nervensystem unseren Organen unbewusst die entsprechenden Befehle erteilt. Allerdings scheinen diesem Effekt zum Beispiel beim Blutdruck enge Grenzen gesetzt zu sein – weil der Körper einer Absenkung durch ein Scheinmedikament bald wieder entgegensteuert, ist mit einer Umstellung der Lebensführung deutlich mehr zu erreichen. „Dass sich solche Wirkungen auch langfristig therapeutisch nutzen lassen, halte ich für unwahrscheinlich“, so Meißner.

Wo liegen die Grenzen der Placebomedizin? Diese Frage wollte 2001 eine Arbeitsgruppe der Cochrane Collaboration klären. Neun Jahre später wurde die Studie von der Organisation, die sich der Sichtung und Ordnung des medizinischen Wissens verschrieben hat, noch einmal überarbeitet.

Sechzig Symptome und Krankheiten nahmen die Arbeitsgruppen-Leiter Asbjørn Hróbjartsson und Peter Gøtzsche unter die Lupe. Nur bei vier von ihnen ließ sich ihrer Meinung nach die Heilkraft des Faktors Einbildung eindeutig nachweisen – zumindest wenn man wissenschaftliche Maßstäbe anlegt: Bei Schmerzen, Asthma, Übelkeit, und Angstzuständen – und Asthma kann man seit Wechslers Arbeit wohl wieder von der Liste streichen.

Abhängig von Krankheit

Etwas weniger streng urteilten zwei Expertengruppen der Bundesärztekammer über Scheinmedikamente. Die erste um die ehemalige Fachbereichs-Leiterin des Bundesinstituts für Risikobewertung, Ursula Gundert-Remy, bestätigte den Eindruck der Cochrane- Forscher: Dessen Größe sei tatsächlich sehr abhängig von der behandelten Krankheit. Bei Bluthochdruck, Parkinson, Rheuma und bestimmten Epilepsie-Arten, ermittelte sie mit Hilfe von Arzneimittel-Zulassungsstudien, scheint man auch mit Scheinmedikamenten etwas zu bewirken, bei Altersdiabetes, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Osteoporose und Lungenhochdruck, die oft schneller voranschreiten, dagegen nicht.

Die Autoren der zweiten Expertise erweitern diese Aufzählung: Einiges deute darauf hin, dass auch funktionelle Störungen der Magen- und Darmfunktion auf Placebogaben reagieren. Dasselbe gelte für gastrointestinale Autoimmunkrankheiten, den Morbus Crohn zum Beispiel. Auch Depressionen, Kopfschmerzen, Sucht, Angst- und Schlafstörungen sowie Übergewicht muss man ihrer Meinung nach auf der Liste der besonders placebosensiblen Leiden ergänzen. „In der Regel handelt es sich um Krankheiten, bei denen größerer Einfluss von Nervensystem und Psyche angenommen wird“, sagt Klaus Linde vom Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München.

Ein Viertel weniger ohne Placebo

Dank einer zweiten Cochrane-Studie haben wir inzwischen auch schwarz auf weiß: Auch normale Medikamente würden ohne Placebo-Effekt im Schnitt ein Viertel ihrer Wirkung einbüßen. Bei Depressionen zum Beispiel kann dieser Anteil sogar fünfzig Prozent überschreiten. Die Experten sind noch auf ein zweites Muster gestoßen: Ist erst einmal Gewebe zerstört, lässt sich per Placeboeffekt nur wenig reparieren, das gilt für Meniskusriss, Bandscheibenvorfall oder Magengeschwür. Tumoren macht ein Scheinmedikament ebenfalls nicht den Garaus. „Das Wort Heilung würde ich im Zusammenhang mit Placebos nicht in den Mund nehmen“, sagt Karin Meißner.

Dafür fühlen sich die Patienten definitiv besser. Selbst bei einer fortgeschrittenen Krebskrankheit kann der Glaube an den Erfolg der Behandlung die Lebensqualität heben. Wahrscheinlich muss man deshalb gerade den Schmerz als Paradedisziplin der Placebos ansehen – nach einer Schein-Akupunktur werden auf einer Schmerzskala Werte angegeben, die 75 Prozent des Effektes von nicht-steroidalen Antirheuma-Tabletten wie Diclofenac betragen – das flößte selbst Hróbjartsson und Gøtzsche Respekt ein. Und das nicht nur für ein paar Wochen, bei Schmerz ist die Scheintherapie manchmal auch monatelang erfolgreich.

Neurowissenschaftler Fabrizio Benedetti von der Universität Turin trug in der Fachzeitung Pain eine besonders interessante Studie zum Thema bei. Er ließ 35 junge Leute mal mit echtem Sauerstoff, mal mit einer leeren Flasche auf dem Rücken auf 3500 Meter hoch klettern. Objektiv hatten die Bergsteiger, die nur Placebo einatmeten, zwar schlechtere Blut-, Herz- und Entzündungswerte, subjektiv fühlten sie sich aber nicht schlechter. Noch interessanter wurde es jedoch, als er die Kletterer erst zweimal mit Sauerstoff üben ließ, bevor er sie mit leerer Flasche den Berg heraufschickte. Plötzlich blieben selbst die harten Herz- und Entzündungswerte unverändert.

Das Training hatte den Placeboeffekt verstärkt. Konditionierung nennt die Lernpsychologie seit Iwan Petrowitsch Pawlow den Trick, durch das Wiederholen eines Reizes dem Körper Reaktionen anzutrainieren. Inzwischen ist belegt: Das gilt nicht nur für den Speichelfluss von Hunden, sondern auch für Scheinmedikamente. Wenn der Patient nicht nur im Kopf erwartet, dass es ihm besser geht, sondern sein Körper zuvor gelernt hat, dass damit zu rechnen ist, lassen sich die Grenzen des Placeboeffekts weiter herausschieben, dann verändert er selbst zuvor unverrückbare Laborwerte. Nutzen lassen sich solche Tricks aber bisher nur bei der langfristigen Gabe eines echten Medikaments. Um beispielsweise Dosen herunterzuschrauben.

Nebenwirkungen spürbar

Der Nachteil: Je stärker der Placeboeffekt ist, desto eher hat er auch Nebenwirkungen. Anfang der 1990er Jahre wollte Ursula Gundert-Remy herausfinden, welche Nebenwirkungen bei der Gabe von Wasser, Milchzucker und ähnlichen Scheinwirkstoffen zu befürchten sind. Dafür wurden die Probleme verglichen, die bei Teilnehmern von Arzneimittel-Prüfungen unter Placebo und unter den Originalpräparaten aufgetreten waren – es waren dieselben. Ein Scheinmedikament, ohne Wissen des Patienten gegeben, überträgt nicht nur die positiven Effekte des Mittels, sondern auch die negativen – wenn auch in schwächerer Ausprägung. Selbst Gangstörungen können auftreten – wenn sie auf dem Aufklärungsbogen stehen.

Selbst wenn er faktisch nichts macht, kann ein Mediziner deshalb dem Patienten schaden: „Den Placebo-Effekt als solchen gibt es eigentlich nicht, darüber ist man sich in der Forschung weitestgehend einig“, weiß Klaus Linde. Er sei eher als eine Klasse von neurobiologischen Phänomenen anzusehen, die mit dem Setting der Therapie und der Interaktion zwischen Arzt und Patient verbunden sind. Und großen Einfluss hat auch ein ganzer Blumenstrauß so genannter Kontextfaktoren: Operationen wirken stärker als Pillen, rote Tabletten besser gegen Schmerzen, blaue gegen Depressionen.