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„Blind Date“Wie Timur Turga aus seiner Erblindung ein Bühnenprogramm macht

8 min
Timur Turga

Mit Anfang 20 musste Timur Turga seine Ausbildung zum Kinderpfleger abbrechen.

Mit Anfang 20 musste Timur Turga seine Ausbildung zum Kinderpfleger abbrechen, weil er nach und nach erblindet war. Er begann, auf kleinen Bühnen aus seinem Alltag zu erzählen und plötzlich fanden ihn viele lustig. Bei einer Pizza erzählt er, warum gute Comedy auch Tragik und Schmerz braucht.

Blind Date”, so hat Timur Turga eins seiner Comedyprogramme genannt. Und eigentlich ist jede Begegnung für den 29-Jährigen mit dem kurz geschorenen dunklen Haar irgendwie ein Blind Date. Zumindest seit 2017, als er so sehr erblindete, dass er seine Ausbildung zum Kinderpfleger aufgeben musste. Mit nur noch 5 Prozent Sehkraft konnte er nicht mehr auf eine Gruppe Kleinkinder aufpassen.

Turga kann heute nur noch Umrisse und Schemen erkennen, oder wenn er sich etwas ganz nah vors Auge hält, das Smartphone zum Beispiel. Seine Augenkrankheit war ein schleichender Prozess, die Sehkraft wurde nach und nach schwächer. Vor zehn Jahren wurde er erstmals operiert - das war noch ein Jahr vor Beginn der Ausbildung, während eines Freiwilligen Sozialen Jahres im Altenheim.

Ein „Blind Date“ in der Kölner Altstadt

„Da durfte ich zwei Monate nicht zur Arbeit kommen und weil mir langweilig war, habe ich ganz viel Stand-up-Comedy geguckt und mich spontan bei einer offenen Bühne angemeldet“, erzählt er.

Wir treffen uns zu einem beruflichen „Blind Date“ in Köln, Turgas Heimat, bei einem Mittagessen im Restaurant „Pizza Pasta Lucca“. Den Ort kennt der 29-Jährige gut. „Ich fand es immer sehr gemütlich und bin sowieso gern in der Gegend vom Altmarkt und Heumarkt“, sagt er. Außerdem findet er sich besser zurecht an Orten, an denen er schon war.

Gelegen in einer Seitengasse der Hohen Straße, einer geschäftigen Einkaufsstraße Kölns, sitzen wir an diesem warmen Spätsommertag draußen, einfaches, helles Mobiliar vor einer auffallenden „Pizza Pasta”-Leuchtschrift. Hier ist einiges los, Leute laufen vorbei, Kellner tragen Speisen umher. Turga bestellt eine Pizza Margherita. „Ich bin beim Essen ein bisschen merkwürdig, ich mag es nicht, wenn da zu viele verschiedene Sachen drauf sind“, sagt er. Dann also so, ohne irgendwelchen Schnickschnack.

Seine ersten Erfolge als Comedian kamen, als die Sehkraft und der Beruf gingen.

Was hat sich da verändert, Timur Turga?

Vorher bin ich auch schon bei Open-Mics aufgetreten, aber ich habe nur ausgedachte Geschichten und wirres Zeug auf der Bühne erzählt. Das hat nie funktioniert. Als ich dann arbeitslos war, weil ich meine Ausbildung aufgeben musste, habe ich darüber geredet, was gerade passiert ist, mit dem Job und meinen Augen. Das waren zum ersten Mal authentische Geschichten aus meinem Leben. Und dadurch wurde es auch lustiger und besser und es kamen immer mehr bezahlte Auftritte dazu.

Muss man als Comedian also aus dem Privatleben plaudern?

Muss man nicht - jeder, wie er sich wohlfühlt. Aber man muss sich auf der Bühne wohlfühlen. Ich habe mich damals noch nicht so wohlgefühlt, weil ich nicht wusste, was ich den Leuten erzähle. Ich bin auch damals nicht viel rausgekommen, war immer sehr schüchtern und hatte nie so aufregende Geschichten zu erzählen. Ich habe dann mit der Zeit für mich gemerkt: Ich fühle mich damit am wohlsten, wenn ich einfach ich selbst bin und aus meinem Leben erzähle.

Die Erblindung war für Sie ein Tiefpunkt im Leben. Braucht gute Comedy auch Tragik und Schmerz?

Auf jeden Fall. Wenn man bei Comedy genau hinhört, bei vielen Geschichten, die so auf der Bühne erzählt werden, steckt richtig viel versteckter Schmerz drin. Viele Geschichten, die mir im Alltag passiert sind, waren am Anfang nie lustig, und später hat man dann etwas Lustiges daraus gemacht. Das ist das Schöne an der Kunstform: Man kann etwas Trauriges nehmen und etwas Positives daraus machen.

Mittlerweile hat Turga die Kleinkunst zum Hauptberuf gemacht, seit 2019 kann er davon leben. Er hat Soloauftritte, ist aber auch immer wieder bei Fernsehproduktionen wie dem „Quatsch Comedy Club“ oder „Die besten Comedians Deutschlands“ dabei, letztes Jahr war er außerdem in der Prime-Video-Realityshow „Licht aus!“ zu sehen. Als nächstes tritt Turga unter anderem am 3. November mit seinem jetzigen Soloprogramm „Blindgänger“ beim Cologne Comedy Festival auf.

Humor half Timur Turga beim Verarbeiten

Comedy hat ihm geholfen, besser mit seiner Erblindung umzugehen. „Der Humor hat für mich alles ein bisschen aufgelockert, weil es war sonst alles sehr ernst und sehr düster für mich“, erzählt er. „Das hat mir in dem Moment das Gefühl gegeben: Wenn ich darüber lachen kann, ist es vielleicht nicht so schlimm oder ich werde damit klarkommen und brauche einfach noch etwas Zeit.“

Seit zweieinhalb Jahren macht Turga eine Psychotherapie und nimmt Antidepressiva. Das zu erzählen, ist sehr persönlich - und trotzdem lässt er auch sein Bühnenpublikum daran teilhaben. „Comedy hat mich damals so halbwegs auf den Beinen gehalten, aber was mir erst Jahre später geholfen hat, sind die Therapie und die Antidepressiva“, erzählt er, während er seine restliche Pizza isst. Sie ist schon längst kalt geworden vom vielen Reden. „Therapie hat mir noch mal geholfen, viel stabiler zu werden und auch bei vielen Dingen nicht mehr so unsicher zu sein.“

„Fake“-Vorwürfe wegen seiner Restsehkraft

Zu Beispiel in den Situationen, in denen Menschen ihm nicht glauben, dass er blind sei, weil er noch eine minimale Restsehkraft hat. Immer wieder sei es passiert, dass Leute ihm sozusagen „als Test“ mit der Hand vor dem Gesicht herumgewedelt hätten oder ihm vor den Blindenstock gelaufen seien und ihm vorgeworfen hätten, er „fake“ die Blindheit nur. „Ich habe gelernt, damit besser klarzukommen“, so Turga. „Dieses Bedürfnis, Leuten etwas beweisen zu müssen, ist weggegangen. Seitdem ist meine Comedy ehrlicher geworden und das Leben stabiler.“

Und die Therapie habe ihm auch dabei geholfen, weniger verbissen an Sachen heranzugehen. So, wie er es teilweise bei Kollegen erlebt. „Ich war früher auch so“, erzählt er. „Selbst als die ersten Fernsehauftritte kamen, war ich danach nie glücklich. Ich hatte trotzdem das Gefühl, ich habe nicht genug geschafft oder war nicht gut genug.“ Heute sei er da entspannter und wolle seinen Selbstwert nicht allein vom Erfolg als Comedian abhängig machen. „Ich wünsche, ich hätte das damals nicht gemacht, weil das Gift für die Seele war.“

Auch Vorwürfe, er bekomme Jobs nur, weil er blind sei, nimmt er heutzutage gelassener hin. „Was ich eher schlimm finde, ist, wenn Kollegen sowas sagen wie ‚der ist nur lustig, weil er behindert ist‘.“ Vielleicht würden sie es gar nicht so meinen, schiebt er hinterher. „Eine Sache, womit sie recht haben, ist: Ich bin bei vielen Formaten dabei, weil ich der Blinde bin und das vielleicht mal was Neues ist, oder vielleicht ist es auch der Gedanke, dass es super für die Aufklärung oder die Vielfalt ist. Der Hauptgrund ist eigentlich nie, dass ich so unfassbar lustig bin, sondern es ist die Behinderung.“

Ganz ohne Humor kommt aber doch auch ein Blinder nicht in eine Comedy-Show? „Das weiß ich nicht“, so Turga trocken. „Da muss ich schon krass unlustig sein.“ Und lacht dann.

Wer darf Witze über Behinderungen machen?

Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn er Witze über sich selbst als Mensch mit einer Behinderung macht, aus seinem Alltag erzählt, ist das authentisch. Wenn er darüber lachen kann, kann es sein Publikum auch tun. Turga will Menschen ohne Behinderung nicht pauschal absprechen, Witze über ihn oder andere Betroffene machen zu dürfen - es komme nur eben darauf an, wie. So wie es der Komiker Luke Mockridge - der mit Aussagen über Athleten der Paralympics für Aufregung gesorgt hat - solle man es nicht machen.

„Das ist ja nicht immer alles so schwarz-weiß, sondern auch komplett situationsabhängig“, gibt der 29-Jährige zu bedenken. „Es kommt auch darauf an, was man für ein Typ ist, wie man das rüberbringt, selbst wenn die Intention gut ist, und über wen man Witze macht.“

Inklusion - ein aufeinander zugehen

Beim Thema Inklusion ist Turga nachsichtig mit den Leuten - denn oft würden sie es gut meinen. „Genauso wie ich mir wünsche, normal behandelt zu werden, muss ich auch meinem Gegenüber die Möglichkeit geben, mich normal zu behandeln“, meint er. „Das heißt auch, nicht alles auf die Goldwaage zu legen, was man mir sagt. Jemand sollte in meiner Gegenwart keine Angst davor haben, was Falsches zu sagen.“

Er mag es nicht, wenn jemand im Umgang mit ihm wie auf Eiern läuft. „Es ist für mich Inklusion, wenn man einfach zusammenarbeitet, um ein Problem zu lösen.“ Und Probleme, die gibt es genug für blinde Menschen. Sei es wie man ein richtiges Produkt im Supermarkt oder das Gate am Flughafen findet.

Eine Situation hat er bereits in eine Bühnennummer verwandelt. Um ihn zum richtigen Terminal zu begleiten, sei er in einen Rollstuhl gesetzt und dorthin geschoben worden. Das Prozedere habe ihn zunächst selbst etwas gewundert - um dann wieder Verständnis zu zeigen: Es gehe einfach schneller mit dem Rollstuhl, als einen Blinden an einem für ihn unbekannten Ort herumzuführen.

Dating „ist schräg geworden“

Was durch seine Erblindung ebenfalls kompliziert bis unmöglich geworden ist: die nonverbalen Signale bei Menschen zu lesen - speziell bei Verabredungen mit Frauen, bei einem „Blind Date“ also, das wirklich ein Date ist. „Das ist schräg geworden“, sagt Turga und erzählt, dass es immer wieder zu Verunsicherung komme, wenn etwa die Frau denke, sie habe doch durch Blicke oder Lächeln eindeutige Zeichen gesendet, er aber darauf nicht reagiere - weil er es nicht sieht.

Und manche Frauen, die hätten immer noch Vorurteile: „Mir hat mal eine direkt beim ersten Date gesagt: ‚Ich war mir gar nicht sicher, ob ich mich mit dir treffen will, weil Blinde ja keinen Sex haben können‘“, erzählt er, und schiebt mit einem Lachen hinterher: „Da habe ich auch wieder was dazugelernt.“ Sein Alltag - so viel ist klar - bietet genügend Comedystoff.