Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

GerichtsurteilBeatmungs-WG muss ausziehen

Lesezeit 8 Minuten

Beatmung eines Koma-Patienten in einer Intensivstation.

Köln – Die Bewohner der Erdgeschosswohnung in dem schmucken Mehrfamilienhaus sind sehr still. Sie stören niemanden, eigentlich. Der Eigentümer der Wohnung hatte angekündigt, es würde eine „Alten-WG“ einziehen. Aber die neuen Mieter kamen im Januar nicht mit großem Gepäck und Umzugshelfern. Sie wurden mit dem Krankenwagen gebracht.

Die 90 Quadratmeter große Erdgeschosswohnung ist eine Beatmungs-WG. Menschen, die nicht mehr aus eigener Kraft atmen können, werden hier versorgt; manche liegen im Wachkoma, andere sind schwer lungenkrank, können nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Die meisten werden wohl in dieser Wohnung sterben. Sieben weitere Parteien wohnen in dem Haus in Innenstadtnähe, allesamt Eigentümer. Einstimmig haben sie dem Besitzer der Erdgeschosswohnung untersagt, die Räume an schwerstkranke Pflegepatienten zu vermieten. Der wehrte sich, zog vor das Amtsgericht Köln. Doch eine Richterin hat vorige Woche den Beschluss der Eigentümerversammlung bestätigt. Dass Krankentransporte, Angehörigenbesuche und Leichentransporte zu einer „extremen Unruhe im Haus“ führen, sei nachvollziehbar, urteilte sie.

Der Prozess ist ein Novum in Köln. Zum ersten Mal war eine Beatmungs-WG Thema einer Gerichtsverhandlung, vermutlich aber nicht zum letzten Mal. Denn die Branche boomt. Nach Auskunft eines städtischen Mitarbeiters „sprießen“ die umstrittenen Wohngemeinschaften seit Monaten „aus dem Boden“. Der Grund: Die Intensivmedizin macht große Fortschritte, immer mehr Menschen überleben eine schwere Operation, können aber womöglich nie wieder selbstständig atmen. Sobald sie aus der Intensivstation entlassen werden, müssen sie weiter versorgt werden. In der Wohnung in Innenstadtnähe werden zurzeit vier Menschen künstlich beatmet. Offiziell sind sie die Mieter der Wohnung, ihre Namen stehen auf den Klingelschildern. Die Namen wechseln häufig. Frau Held (Name geändert) ist eines Nachts gegen drei Uhr gestorben. Ein Notarzt hat noch versucht, sie im Treppenhaus zu reanimieren – die Geräusche des Defibrillators waren bis in die oberste Etage zu hören.

Personal trägt weiße „Astronautenanzüge“

„Wir leben Wand an Wand mit sterbenden Menschen“, sagt Günter Schneider (Name geändert), der mit seiner Frau in der vierten Etage wohnt. Auch wenn sie die Patienten weder sehen noch hören – die Beatmungsgeräte piepen nachts in regelmäßigen Abständen. Wenn irgendetwas nicht stimmt, erklingt ein Dauerton. „Wir können nicht bei offenem Fenster schlafen.“

Regelmäßig fahren Kranken- und Notarztwagen vor, halten mit laufendem Motor im Hof oder parken die Straße und den Gehweg zu. Alle zwei Wochen wechseln Pfleger die Sauerstoffflaschen der Patienten aus – dann ertönt 20 Minuten lang ein zischendes Geräusch. Die Bewohner direkt über der Beatmungs-WG werden manchmal mitten in der Nacht wach, weil unten die Waschmaschine schleudert oder die Sirene eines Notarztwagens sie aus dem Schlaf reißt.

Zu welchen Zeiten die Pfleger da sind, wann sich jemand um die Patienten kümmert und wann nicht, erschließt sich den anderen Bewohnern des Hauses nicht. „Es ist, als hätten wir ein Hospiz im Haus“, sagt Günter Schneider. Ein Hospiz, in dem die Sterbenden womöglich nur unzureichend versorgt werden. „Es wirkt alles so hemdsärmelig, als sei die WG eine rein wirtschaftliche Angelegenheit.“ Das Pflegepersonal entsorge riesige blaue Säcke über den Hausmüll. „Wir trauen uns gar nicht, hineinzuschauen“, sagt Schneider. In der gelben Tonne liegen alle paar Tage gebrauchte Beatmungsschläuche.

Manchmal kommen die Pfleger oder Ärzte in weißen „Astronautenanzügen“, wie Schneider sagt, desinfizieren sich im Auto die Hände und betreten dann den Hausflur. „Im Haus gehen fünf kleine Enkelkinder ein und aus, unser Enkel ist auch oft zu Besuch, er ist noch nicht mal zwei Jahre alt – es ist einfach kein gutes Gefühl“, berichtet Günter Schneider. Seine Frau Annemarie sagt: „Es fühlt sich auch nicht richtig an, wenn wir in unserer Wohnung ein Fest feiern, während unten Menschen sterben.“ Sie wolle nicht herzlos klingen. „Irgendwo müssen die Menschen ja hin.“ Aber eine Wohnung könne nicht der richtige Ort sein. „Sie gehören in ein Krankenhaus auf eine vernünftige Pflegestation.“ Alternativen zu einer Beatmungs-WG sind spezielle Heime oder die Pflege zu Hause. Aber welche Form ist die beste? Welche die günstigste? Und welche Qualifikation müssen die Pflegekräfte besitzen?

„Menschenverachtend und diskriminierend“

Vieles ist noch nicht geklärt – dies sei ein Missstand, findet der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK). Die Experten prüfen im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen die Qualität von Pflegeheimen und -diensten. Ihr Verdacht: Unter den Pflegediensten tummeln sich auch unseriöse Anbieter, die es ausschließlich auf Profit abgesehen haben. „Es wäre sinnvoll, für solche Wohngemeinschaften Qualitätsstandards festzulegen und durch gesetzliche Regelungen verpflichtend eine externe Kontrolle einzuführen“, fordert MDK-Sprecherin Christiane Grote. Schließlich ist mit Beatmungspatienten viel Geld zu verdienen. Mehrere tausend Euro kostet die Versorgung eines Patienten pro Monat.

Der Anwalt der Eigentümergemeinschaft vertritt eine klare Auffassung: „Es ist ein Skandal, dass man in einer normalen Wohnung Komapatienten behandeln darf“, schimpfte der Jurist Anfang Juli in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht. Der Anwalt der Gegenseite konterte: Die Beschwerden der Hausbewohner über angebliche Belästigungen seien „menschenverachtend und diskriminierend“.

Es geht bei dem Fall um eine simple Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt: Bis zu welchem Grad kann man jemandem zumuten, Tür an Tür mit todgeweihten Menschen zu leben? Beim Amtsgericht legt man Wert auf die Feststellung, dass diese Grundsatzfrage nicht Gegenstand des Verfahrens war. Man habe lediglich zu prüfen gehabt, ob die Störungen durch den Betrieb der Beatmungs-WG über die einer normalen Wohnungsnutzung hinausgingen. „Die Kollegin hat sich ihre Entscheidung alles andere als leicht gemacht“, betont Gerichtssprecher Jörg Baack. Das Urteil fiel am Ende eindeutig aus: Die Hauseigentümer müssen die Beatmungs-WG nicht dulden. In der schriftlichen Urteilsbegründung heißt es: Zwar müsse eine Eigentümergemeinschaft grundsätzlich die Versorgung eines Menschen in den eigenen vier Wänden an dessen Lebensende ertragen, auch wenn sie besonders pflege- und personalintensiv sei – aber die Pflege von gleichzeitig vier Patienten in einer Dreizimmerwohnung sei den übrigen Hausbewohnern „nicht mehr zumutbar“. Die Beeinträchtigungen seien nicht mit denen vergleichbar, die in einem reinen Wohnhaus herrschten, sondern mit denen auf einer Krankenstation. Die Richterin verwies auf regelmäßige Lieferungen von Hilfsgeräten, die 24-Stunden-Intensivpflege und die „häufige Besucherfrequenz“ durch Pflegepersonal und Physiotherapeuten – vor allem aber auf die häufigen Krankentransporte und Rettungseinsätze sowie die Tatsache, „dass infolge des Versterbens der Patienten ständig neue Menschen in die Wohnung einziehen“.

Der Tod einer 44-jährigen Frau, die im Februar in einer Beatmungs-WG gestorben ist, beschäftigt die Kölner Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen richten sich laut Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer gegen mehrere Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes, die in der Wohngemeinschaft gearbeitet haben. Es besteht der Verdacht der fahrlässigen Tötung. Bremer äußerte sich mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen nicht zum Stand der Dinge. Die Wohngemeinschaft ist inzwischen geschlossen. (hsr)

Menschen, die dauerhaft künstlich beatmet werden müssen, können zwischen drei Wohnformen wählen: einer sogenannten Beatmungswohngemeinschaft, einem Beatmungsheim oder der Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst in den eigenen vier Wänden.

Beatmungs-WGs sind an Krankenhäuser angeschlossen oder werden von privaten Pflegediensten organisiert. In Köln gibt es nach Auskunft der Stadt derzeit acht ambulante Wohnangebote mit insgesamt 37 Plätzen – Tendenz steigend. Offiziell tritt der Pflegedienst als Vermieter auf, der die einzelnen Zimmer einer Wohnung an die Patienten untervermietet. Zusätzlich bietet er ihnen an, sie ambulant zu betreuen. Der Betreiber muss die WG bei der Stadt anzeigen. Die Beamten prüfen, ob das Wohnprojekt tatsächlich als WG einzustufen ist oder als stationäre Einrichtung. Anders als bei stationären Einrichtungen ist eine Fachkraftquote für den Betrieb einer WG nicht gesetzlich vorgeschrieben. Auch unterliegen die WGs nicht der staatlichen Heimaufsicht. Kontrolliert werden die WGs in der Regel nur vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), dem Begutachtungsdienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Deren Prüfauftrag beziehe sich aber nur auf die Pflegedienste, sagte eine Sprecherin. „Nur wenn ein Pflegedienst geprüft wird, der Patienten in einer WG betreut, und wenn einer dieser Patienten in die Zufallsstichprobe einbezogen ist, wird die Versorgungsqualität bei diesem einzelnen Patienten geprüft.“ Der MDK schätzt, dass jede vierte Beatmungs-WG „deutliche Mängel“ aufweist. Dies sei die Erfahrung einer Ortsgruppe, betonte die Sprecherin, systematische Erhebungen gebe es nicht. „Erfahrungen anderer medizinischer Dienste weisen aber in dieselbe Richtung.“ Mängel bestünden vor allem in der Qualifikation des Pflegepersonals.

Beatmungsheime sind auf die Intensivpflege schwer kranker Menschen spezialisiert, die vorübergehend nicht oder nie mehr selbstständig atmen können. In den Einrichtungen arbeiten überwiegend staatlich anerkannte Pflegekräfte, die zum Beispiel Erfahrung auf der Intensivstation eines Krankenhauses gesammelt haben. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt im Bestreben, die Patienten auf lange Sicht wieder von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Wie bei Beatmungs-WGs gibt es auch bei den Heimen große Qualitäts- und Preisunterschiede.

Die Pflege zu Hause ist in der Regel die teuerste Alternative, denn bei diesem Modell betreut ein Pfleger jeweils einen Patienten – falls notwendig im 24-Stunden-Schichtdienst.

Von außen deutet an diesem Freitagmittag nichts auf die ungewöhnliche Wohngemeinschaft im Erdgeschoss hin. Das Haus steht in einer gehobenen Wohngegend in der Mitte einer schmalen, ruhigen Straße. Eine dichte Hecke versperrt den Blick auf die Zimmer im Parterre. Der Besuch von Journalisten ist nicht erwünscht. Auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ teilt der Betreiber des Pflegedienstes mit, der die Räume gemietet hat und die beatmeten Menschen betreut: Er wolle „mit dieser Sache“ nicht in die Presse. Denn leider seien Beatmungs-WGs seit dem Todesfall in einer anderen Wohngemeinschaft in Köln (siehe „Fahrlässige Tötung?“) ins Gerede gekommen. Es solle jetzt erst mal Gras über das Thema wachsen.

Natürlich, gesteht der Mann noch zu, gebe es auch schwarze Schafe in seiner Branche. Er selbst fühle sich aber als Opfer der Debatte, betont er. Fragen zu der von ihm betriebenen WG möchte er allerdings nicht beantworten. Somit bleibt ungewiss, über welche Qualifikationen seine Mitarbeiter verfügen und letztlich: ob der Argwohn der Hausbewohner berechtigt ist.

Schließlich sagt der Pflegedienstleiter etwas, das die Eigentümergemeinschaft erleichtern dürfte: „Wir werden die WG aufgeben, wir ziehen schon sehr bald aus.“ Die Hausbewohner hätten dem Projekt das Leben schwer gemacht. „Für unsere Patienten hat das die Sache natürlich nicht einfacher gemacht.“ Die Klagen der Nachbarn könne er nicht nachvollziehen. „Unsere Patienten“, schließt der Mann, „sind naturgemäß sehr ruhige Mieter.“