Zu alt, zu wenig NachwuchsÄrzte warnen vor Versorgungskrise in Köln

Lesezeit 5 Minuten
Dr.med. Lothar Rütz, Facharzt für Allgemeinmedizin, aufgenommen in seiner Praxis in Nippes in Köln.

Lothar Rütz (70) eröffnete vor 39 Jahren seine Hausarzt-Praxis in Nippes. „Heute würde ich nicht mehr Arzt werden“, sagt er.

Die niedergelassenen Ärzte in Köln sind im Schnitt zu alt. Investoren übernehmen viele Praxen. Eine Zunft schlägt Alarm. 

Helmut Kohl war erst zwei Jahre Bundeskanzler, als Lothar Rütz 1984 seine Praxisräume in der Kempener Straße in Nippes bezog. Als niedergelassener Hausarzt übernahm er einen großen Patientenstamm, die eigene Praxis bedeutete viel Arbeit, aber auch eine gesicherte Zukunft. 39 Jahre später arbeitet der inzwischen 70-Jährige weiter täglich in seiner Praxis. „Die Arbeit am Patienten hat sich nicht verändert“, sagt er. „Die Bedingungen haben sich allerdings stark verändert – und zwar zum Negativen.“

Lothar Rütz neigt nicht zu überbordenden Emotionen. Arzt ist er geworden, weil ihn interessiert habe, „wie der menschliche Körper funktioniert“, nicht, weil er Menschen heilen wollte oder weil er ein besonders geselliger Typ ist. „Heute würde ich einen anderen Beruf ergreifen – niedergelassener Arzt würde ich nicht mehr werden, Arzt in einer Klinik aber auch nicht.“ Neben der „überbordenden Bürokratie“ liege das auch am Geld.

Die Gebührenordnung für Hausärzte sei 1996 zuletzt angepasst worden, „zuletzt hatten wir eine Honorarerhöhung von 3,84 Prozent bei rund neun Prozent Inflation“. Viele Untersuchungen könne er längst nicht mehr kostendeckend anbieten. „Für 25 Cent lässt sich kein Blutbild erstellen. Das Honorar für angeforderte gesetzliche Leistungen ist im Schnitt am 15. November aufgebraucht. Danach arbeiten wir als Praxen unentgeltlich.“

Unterschiedliche Zahlen über das Einkommen niedergelassener Ärzte

Ärzteverbände kritisieren schon lange die Budgetierung für gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten. Die Budgets werden zwischen den Krankenkassen und der kassenärztlichen Vereinigung verhandelt und sind gedeckelt. Kommen mehr Patienten in die Praxis als vorgesehen, verdient die Praxis nicht mehr an ihnen.

Nun ist es nicht so, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Deutschland am Hungertuch nagen würden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach twitterte jüngst, dass niedergelassene Ärzte im Schnitt nach allen Kosten rund 230.000 Euro verdienten. Die niedergelassenen Ärzte widersprechen dieser Zahl: Sie sagen, Lauterbach habe den Ertrag der Praxen genannt, der nicht der Gewinn sei. Laut Virchowbund bleibt im Schnitt ein Praxisüberschuss von knapp 173.000 Euro und ein Nettoeinkommen eines niedergelassenen Arztes von 85.555 Euro.

Lothar Rütz beschwert sich nicht über seinen Verdienst. Weil die Rahmenbedingungen allerdings immer schlechter geworden seien, sei es auch „sehr schwierig, die Nachfolge zu regeln“. Es gebe zwar Interessenten für seine Praxis in Nippes, die Zeiten, in denen mögliche Käufer Schlange standen, seien indes „lange vorbei“. Für die nächsten Jahre zeichne sich „eine Krise der niedergelassenen Ärzte ab“.

Niedergelassene Radiologen sind in Köln im Schnitt über 60 Jahre alt, Hausärzte und Anästhesisten 55

Ein Blick auf die Altersstruktur der niedergelassenen Ärzte in Köln verdeutlicht, dass es auch hier bald zu akuten Versorgungsengpässen kommen könnte. Beispiel Nippes: Hier sind 46 Prozent der Kinderärzte, knapp 38 Prozent der Hausärzte, 40 Prozent der HNO-Ärzte sowie 60 Prozent der Augenärzte und Neurologen über 60 Jahre alt. Viele davon auch über 65. Nach internen Zahlen, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegen, sind niedergelassene Radiologen in Köln im Schnitt rund 60 Jahre alt, Neurologen gut 56, Hausärzte und Anästhesisten 55. 22,5 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte der KV Nordrhein waren im vergangenen Jahr älter als 65 Jahre – damit stellen sie einen höheren Anteil als jede andere Altersgruppe.

Köln stehe als attraktive Großstadt noch besser da als viele andere Regionen in Deutschland, sagt Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung. Bei den Allgemeinmedizinerinnen und Medizinern tue sich indes schon heute eine riesige Lücke auf. Aktuell seien bundesweit bereits 4.800 Hausarztsitze unbesetzt.

Mehr als ein Fünftel aller Vertragsärzte seien in Deutschland älter als 60 Jahre, so Stillfried. „Die hohe Anzahl der Vertragsärztinnen und -ärzte zwischen 57 und 60 Jahren zeigt die enorme Welle der zu erwartenden Ruhestandseintritte in den nächsten fünf bis sieben Jahren an.“ Die Politik habe es verpasst, „dem bevorstehenden Engpass rechtzeitig durch eine Förderung von zusätzlichen Medizinstudienplätzen vorzubeugen“. Um eine Unterversorgung zu verhindern, müssten auch viel mehr Medizinerinnen und Mediziner aus dem Ausland gewonnen werden.

Jürgen Zastrow, langjähriger Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Köln, hat seine Praxis Anfang des Jahres übergeben. Wie sein Kollege Lothar Rütz würde der 68-Jährige „heute eher keine eigene Praxis mehr aufmachen“. Er überlegt kurz, bevor er nachlegt: „Nein, das würde ich auf keinen Fall tun.“

Das Problem sei, dass „für endliches Geld unendliche Leistungen verlangt werden“, sagt Zastrow. „Wir sollen fliegen, können es aber nicht. Also rennen und springen wir und flattern dazu mit den Armen und sagen: Wir fliegen doch! Entweder die Patienten zu belügen, gezielt nach Privatpatienten zu suchen oder sich fortwährend selbst auszubeuten, ist aber nicht jedermanns Sache“, so Zastrow.

Porträt von Dr. Jürgen Zastrow

HNO-Arzt Jürgen Zastrow (Archiv)

Hoher Altersdurchschnitt, Leistungen, die nicht bezahlt würden, sinkende Motivation junger Medizinerinnen und Mediziner, sich selbstständig zu machen, deutlich zu wenig Studienplätze für Humanmedizin: Der Status Quo sei die „Folge von sich stetig verschlechternden Bedingungen in den vergangenen 25 Jahren“. 

Das System befinde sich dadurch in „einer Abwärtsspirale, die die Qualität der Gesundheitsversorgung langfristig deutlich verschlechtern könnte“.

Investorenbetriebene Medizinische Versorgungszentren sind Heuschrecken, die auf maximale Rendite ausgelegt sind
Jürgen Zastrow (68), langjähriger Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Köln

Vielerorts übernehmen auch in Köln schon heute Medizinische Versorgungszentren die Aufgaben niedergelassener Fachärzte. Die können durch die Zusammenlegung von Aufgaben und das Teilen teurer Geräte ökonomischer betrieben werden – gehören aber oft Investmentfirmen, „die sich die Leistungen herauspicken, die wirtschaftlich sind, während andere unter den Tisch fallen“, so Zastrow.

„Es sind Heuschrecken, die auf maximale Rendite ausgerichtet sind.“ In Köln ist der Trend zum Beispiel im Bereich Orthopädie, Radiologie und in der Zahnmedizin zu beobachten. Ein von Gesundheitsminister Lauterbach Ende 2022 angekündigter Gesetzentwurf gegen investorenbetriebene Medizinische Versorgungszentren ist bislang noch nicht eingebracht worden.

Der Gesetzgeber fordere „für endliches Geld unendliche Leistungen“, sagt Zastrow. „Die Folgen sehen wir nicht nur heute – sondern auch in den nächsten Jahren.“

KStA abonnieren