„Jetzt rege ich mich auf”Im Kopf sind wir alle schon längst mit dem Virus infiziert

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Coronavirus dpa neu

Szene aus Wuhan: Medizinische Mitarbeiter des Militärs tragen Mundschutz vor einem Flugzeug der Volksbefreiungsarmee.

  • In seiner Kolumne „Jetzt rege ich mich auf” hat sich unser Kolumnist Frank Nägele diesmal mit dem Coronavirus beschäftigt.
  • Zwar gibt es aus Köln noch keine Meldungen, aber das macht eigentlich keinen Unterschied. Denn im Kopf sind wir alle schon infiziert.
  • Soll man die düstere Party mit Fakten stören?

Köln – So eine Epidemie am anderen Ende der Welt hat ihren Reiz, weil einen aus sicherer Entfernung das Gruseln befallen kann. Der „Spiegel“ titelt angesichts der Vorgänge im Reich der Mitte zum Angst-Bild eines von Schutzkleidung Verhüllten perfide: „Made in China“. Damit auch klar ist, wer Schuld hat. Das Stakkato der Coronavirus-Nachrichten macht den Ton dazu: Städte abgeriegelt, Flugverkehr eingestellt, internationale Großveranstaltungen abgesagt, Infizierte in Quarantäne gesteckt.

Die Zahl der Angesteckten geht in die Zehntausende, die der Toten in die Hunderte. Inzwischen ist die Krankheit in Deutschland angekommen. Am Sonntag sind zwei Infizierte in die Heimat zurückgekehrt und in eine Kaserne nach Rheinland-Pfalz gebracht worden.

Aus Köln gibt es noch keine Meldungen, aber das macht eigentlich keinen Unterschied. Im Kopf sind wir alle schon infiziert. In den Apotheken wird das Desinfektionsmittel knapp. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind verstopft. China-Restaurants haben ein Problem. Man rüstet sich für das Schlimmste. Die Bedrohung lauert überall. Es scheint wie in einem Endzeit-Film.

Soll man die düstere Party mit Fakten stören?

Soll man die düstere Party mit Fakten stören? Die Chance, dass die Verheerung durch diese neue, ernst zu nehmende Virus-Variante mit einer ganz normalen Grippe-Saison konkurrieren kann, ist sehr gering. Verlässliche Schätzungen gehen davon aus, dass 2017/2018 alleine in Deutschland 25.000 Menschen an den Folgen der klassischen Influenza gestorben sind. Eine Todeszahl, die im Fall einer Krankheit, an die wir uns nicht gewöhnt haben, zu Aufruhr, Panik und dem Stillstand des öffentlichen Lebens führen würde. Mit Grippe dagegen stirbt es sich eher undramatisch.

Aus China, wo sich die Menschen in den großen Zentren kaum noch auf die Straße wagen, erreichen uns folgende Nachrichten: Die prozentuale Steigerung der Ansteckungszahlen mit dem Coronavirus scheint - sofern man den offiziellen Angaben einigermaßen vertrauen kann - nicht dramatisch zu sein. Die Mortalitätsrate ist eher niedrig. Viele mit dem Virus Infizierte erkranken nicht. Es gibt Berichte über erste wirksame Medikamente. Aus Peking, der Hauptstadt des Milliarden-Reiches, wurde bis Sonntag ein Todesopfer gemeldet.

Lust am Entsetzen ist groß

Nichts deutet darauf hin, dass die Epidemie in globaler Dimension außer Kontrolle gerät. Aber das ist für den Rest der Welt uninteressant, denn die Lust am Entsetzen ist zu groß, und die Politik darf tun, was sonst nicht einmal sie sich traut: In dramatisch anmutenden Rettungsaktionen werden Landsleute nach Hause geholt. Für alles Chinesische werden die Grenzen geschlossen. In Italien wurde nach der zweiten bekannt gewordenen Infektion der Notstand ausgerufen.

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Jedes Mal, wenn solche Situationen eskalieren, fühle ich mich an die 80er- und 90er-Jahre erinnert, als die Aids-Hysterie den Alltag beherrschte. Dahinter steht eine Angst, die ganz tief in uns Menschen steckt: die Angst vor der Ansteckung durch das Böse. Wen wir als Träger des Bösen zu erkennen glauben oder auch nur erahnen, der wird zum Bösen selbst. Ein Mensch, der mir sehr nahe steht, musste in einer Zeit, da ein positiver HIV-Test einem Todesurteil gleichkam, als Positiver unter Menschen leben, die ihm jede Solidarität, jede Achtung aufgekündigt hätten, wenn er sich offenbart hätte. Heute lebt der einstmals Kranke, von der Medizin gerettet, gesund und unbeschwert. Aber er hat immer noch keinen Grund, seine Wahrheit mit der Welt zu teilen. Die Zeit ist nicht reif dafür. Vermutlich wird sie es nie sein.

Wer krank und imstande ist, den Erreger auf andere Menschen zu übertragen, den trifft immer eine Schuld. Diese stillschweigende Übereinkunft bestand zu allen Zeiten in allen Zivilisationen. Es ist am besten, wenn die Schuldigen unser Land, unsere Stadt, unser Viertel, unser Haus und unser Wohnzimmer gar nicht erst betreten dürfen. Niemand würde auf die Straße gehen und dagegen protestieren, dass alles dafür getan wird, Kranken den Zutritt zu verwehren.

Apple schließt seine Filialen in China

Nur wenige würden das Gebot der Menschlichkeit verletzt sehen. Das sagt viel über den Zustand der Menschheit, die mit einem genetischen Programm, das für das Leben von Jägern und Sammlern gedacht war, ins Computer-Zeitalter eingetreten ist. Wer diese Programmierung manipulieren und den Verstand außer Kraft setzen will, muss das mit uralten Ängsten tun. Da kommt so eine Epidemie gerade recht.

Der Konzern Apple, einer der Beherrscher unserer digitalen Welt, hat übrigens damit begonnen, seine Filialen in China zu schließen. Jedem Virus, mit dem Apple es normalerweise zu tun hat, wäre das nicht gelungen. Corona hat es geschafft. Ich finde das bizarr. Es passt zur Situation. 

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