Lage in Kölner Pflege spitzt sich zu„Haben keine Fachkräfte für mehr Einrichtungen"

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In Köln werden laut Experten immer mehr Menschen Pflegeplätze brauchen.

  • Pflegeexperte Michael Isfort fordert im Interview einen Systemwechsel, um die Pflege zu verbessern.
  • Auch in Metropolen wie Köln fehlen vor allem in der Kurzzeitpflege Plätze, was für Angehöre „eine Katastrophe“ ist, so Isfort.
  • Er ist überzeugt, dass das Pflegesystem ohne Hilfskräfte aus dem Ausland zusammenbrechen wird.

Herr Prof. Dr. Isfort, der Kölner Sozialdezernent Harald Rau spricht von einem Pflegenotstand in Köln. Wie bewerten Sie die Situation? Michael Isfort: Von einem Notstand würde ich noch nicht sprechen. In NRW gibt es eine flächendeckende Versorgung, allein in Köln sind es rund 110 stationäre Einrichtungen mit fast 8000 Pflegeplätzen der vollstationären Versorgung. Aber ja, wir haben mehr Nachfrage als Angebote. Und das wird sich auch mittel- und langfristig nicht mehr ändern.

Wie ist die Lage in Köln?

Es gibt einen Versorgungsdruck auch in der Metropole in Köln. In anderen Regionen und Landkreisen ist er noch größer. Die Plätze in stationären Vollzeiteinrichtungen nahmen zwischen 2009 und 2019 leicht zu – aber eben nicht in dem Maß, wie die Bedarfe in der Bevölkerung. Uns fehlen Plätze, vor allem in der Kurzzeitpflege. Das ist für Angehörige oftmals eine Katastrophe. Da sind Betroffene relativ chancenlos, wenn sie schnell einen Platz brauchen. Auch bei den stationären Plätzen werden die Wartelisten immer länger. Auch hier steigt der Druck.

Und diejenigen, die einen Platz suchen, müssen warten, dass ein Mensch in einer Einrichtung stirbt.

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Prof. Dr. Michael Isfort, Professor für Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung an der Katholischen Hochschule NRW.

Ja, das ist so. Menschen müssen sich daher sehr frühzeitig darum kümmern, wie sie sich das Thema Pflege vorstellen, was sie sich wünschen. Es funktioniert nicht, in einer Notlage bei einem Pflegeheim anzurufen und in den nächsten vier Wochen einen stationären Pflegeplatz zu erwarten. Es gibt in Heimen ja keine „Reserve“ an leeren Zimmern. Ein Heim braucht eine Auslastung zwischen 97 und 98 Prozent, um wirtschaftlich zu sein. Daher sind sie in aller Regel belegt. Die Zeiten werden sich für die Bürgerinnen und Bürger tendenziell verlängern, bis sie eine Pflegestruktur für ihre Angehörigen sichergestellt haben.

Also sollte man sich nicht erst im Notfall darum kümmern?

Ja. Viele ältere und Hochaltrige planen ihren Urlaub leider viel systematischer als das mögliche Eintreten von Pflegebedürftigkeit. Die Menschen sollten sich daher frühzeitig an Pflegeberatungsstellen wenden, die sie informieren können, was möglich ist und wie man eine tragfähige Versorgung aufbaut. Die Frage der zurecht benannten Notlage aber ist aus meiner Sicht eine andere.

Welche?

Neue Heime zu bauen, nützt uns wenig. Wir werden keine Fachkräfte haben, um zusätzliche Einrichtungen zu betreiben. Das Entscheidende ist auch nicht, dass die Gesellschaft immer älter wird, sondern dass die Pflegenden immer älter werden. In NRW sind über 30 Prozent der Pflegenden 50 plus und werden in den kommenden zehn Jahre in den Ruhestand gehen. Die entstehende Lücke können wir durch mehr Ausbildung nicht kompensieren, das ist chancenlos. Auf lange Sicht bringen uns daher neue Heime als zusätzliche Bauten nicht wirklich weiter. Das wissen auch Investoren, die sich fragen: Wofür sollen wir neue Einrichtungen bauen, wenn sie keiner betreiben kann?

Zur Person

Prof. Dr. Michael Isfort, 52, ist Professor für Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW), Fachbereich Gesundheitswesen, Abteilung Köln. Zudem ist er Diplom-Pflegewissenschaftler und Krankenpfleger.

In der Vergangenheit hat er sich auch mit der Situation der Pflege in NRW beschäftigt, unter anderem stellte er dieses Jahr die Studie „Berufseinmündung und -verbleib in der Pflege in Nordrhein-Westfalen" vor, die er im Auftrag des Gesundheitsministeriums durchgeführt hat.

Sie haben die Kurzzeitpflege als Katastrophe bezeichnet, also die Situation, wenn jemand beispielsweise seine Angehörigen mal für zwei Wochen in eine stationäre Betreuung geben will, um sich von der Pflege daheim zu erholen. Warum ist es so schwer?

Es gibt kaum Einrichtungen, die sich nur darauf spezialisiert haben. Diese Heime rentieren sich kaum, wenn man sie nicht gut ausgelastet betreibt. Vor allem in Köln ist das ein Problem, weil allein das Grundstück und die Immobilie dafür teurer sind als anderswo. Es ist also ein wirtschaftliches Risiko, privatwirtschaftlich eine Kurzzeitpflegeeinrichtung zu betreiben.

Sie sagen, die Menschen planen Urlaub systematischer als die Pflege. Weil Menschen Pflege und Tod gerne verdrängen?

Natürlich. Wenn Sie ältere Menschen fragen, betrifft Pflegebedürftigkeit immer nur die Nachbarn. Das ist auch normal, sich damit nicht jeden Tag auseinanderzusetzen. Aber als Familie sollte man frühzeitig klären, was möglich ist, was die Menschen sich wünschen. Es braucht einen Plan für die Versorgung. Meistens aber wird das Thema vermieden, bis ein Bedarf da ist. Dann ist es aber oft zu spät.

Ein Betreiber von Pflegeeinrichtungen hat uns erzählt, man müsse dreimal am Tag den osteuropäischen Pflegekräften danken, die in Deutschland Menschen zu Hause pflegen, die würden uns, so sein O-Ton, „den Arsch retten“.

Es ist auf jeden Fall so, dass Hunderttausende Pflegebedürftige ins professionelle System integriert werden müssten, wenn wir die mittel- und osteuropäische Betreuungskräfte in Deutschland nicht hätten. Das System würde zusammenbrechen. Das ist bekannt.

Wie lässt sich das ändern?

Was wir eigentlich brauchen, ist eine Erweiterung zum bestehenden System. Wir werden die Anzahl der ambulanten Dienste und die Anzahl der stationären Pflege in den nächsten zehn Jahren nicht halten können, obwohl wir sie sogar massiv ausbauen müssten. Wir brauchen also etwas Neues, das ergänzt und unterstützt.

Was könnte das sein?

Wir müssen näher an die Menschen, in die Quartiere, in die Ortsteile. Wir brauchen zugehende Hausbesuche und eine verbesserte Koordination der Hilfen. Das Problem ist: Eine Neuaufstellung kostet viel, dauert lang und reicht weit über eine Legislaturperiode hinaus. Das ist für Politiker häufig kaum attraktiv, weil sie etwas anstoßen müssen, dessen Wirkung sie nicht mehr selbst als politischen Erfolg verkaufen können.

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Wir haben in den letzten zehn Jahren eine notwendige Entwicklung verschlafen. Die Daten sind längst bekannt. Hinzu kommt: Viele Kommunen haben sich aus dem Sektor der Altenversorgung weitgehend zurückgezogen und überlassen es den privaten Trägern. Pflege ist aber kommunale Daseinsvorsorge, Städte müssen sich damit konzeptionell beschäftigen und gestalten.

Was sollten sie tun?

Die Kommune kann viel mehr machen und Grundstücke eben nicht mehr nur an den Meistbietenden verkaufen, sondern an einen Investor, der Pflege und altengrechte Anforderungen berücksichtigt. Das setzt eine gute Planung in der Kommune voraus. In Köln ist die Altenplanung im Vergleich zu anderen Städten übrigens ausgesprochen gut.

Es gibt einen Arbeitskreis mit freien Trägern.

Davon halte ich wenig, das als alleinige Lösung zu sehen. Ich würde dazu raten, das Gesundheitsversorgungssystem nicht nur von der Seite der Träger zu betrachten. Hier bestehen zu große Eigeninteressen am Erhalt des Status Quo und zu wenig Bereitschaft, wirkliche Veränderungen anzustoßen. So kommen wir also nicht weiter. Die Probleme aber werden sich zuspitzen und meine große Angst ist, dass wir irgendwann unversorgte Menschen haben, dass hilflose Personen immer öfter in ihrer Wohnung gefunden werden.

Was könnte helfen?

Früher gab es die Gemeindeschwester auf dem Land, die immer gut informiert war, wo es bei welcher Familie brennt, wer Hilfe braucht. Das ist das Vorbild. Jetzt ist die Frage, wo ein solcher Kümmerer im Quartier, im Ortsteil angesiedelt ist. Meiner Meinung nach sollte er bei der Kommune angesiedelt sein, um unabhängig zu agieren. In Deutschland ist das System sehr familienbasiert, die Familie muss die Pflege organisieren, in Japan oder den skandinavischen Ländern beispielsweise prüfen Profis den Pflegebedarf und was nötig ist. Dort ist es Aufgabe der Kommune.

Die in Deutschland vermutlich sagt, das könne sie nicht bezahlen.

Das ist ein Argument. Mein Gegenargument ist: Wenn eine Stadt unkontrolliert mehr Pflegeplätze in einem investorengetriebenen System hat, muss sie über die Zuschüsse zur Pflege ohnehin bezahlen. Die Pflege wird immer als wichtig benannt, es wird betont, wie viel man dort machen müsste; aber eigentlich sind es oft nur Lippenbekenntnisse. Statt Konzepte zu entwickeln, zu investieren und zu erproben, wendet man sich schnell wieder anderen Themen zu.

Neue Wohnungen und Kitas sind in der öffentlichen Diskussion wichtiger?

Das denke ich schon. Mit einem an Demenz erkrankten 85-Jährigen macht man keine großen Schlagzeilen. Eine gute Kita-Versorgung, damit beide Elternteile arbeiten können, ist für die breite Bevölkerung interessanter als ein neues Pflegeheim mit einem besonderen Versorgungskonzept in Köln.

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