Im Schockraum soll künftig ein KI-Agent den Medizinern bei der Erstversorgung von Schwerstverletzten helfen.
Leben retten mit KIKliniken der Stadt Köln an Entwicklungsprojekt beteiligt

Simulation im Schockraum: Die Notärztin übergibt einen schwerstverletzten Patienten an ein Notfallteam im Krankenhaus Merheim – der Verletzte ist allerdings eine computertechnisch ausgeklügelte Puppe.
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Heute gilt es, das Leben von Marko Breuer zu retten. Der 45 Jahre alte Bauarbeiter wurde von einem Stahlträger erwischt und war vom Becken bis zum Brustkorb darunter eingeklemmt. Die Kollegen haben ihn befreit und wiederbelebt, bevor die Notärztin kam. Sie habe ihn beatmet, noch einmal reanimiert und ihm eine Beckenschlinge angelegt, teilt sie jetzt dem Ärzte-Team im Schockraum der Notaufnahme im Krankenhaus Merheim mit.
Als sie geht, wird das Piepsen des Überwachungsmonitors immer lauter und schneller, hochkonzentrierte Geschäftigkeit bricht aus. Medikamente werden gegeben, Laborwerte kontrolliert, eine herausgerutschte Drainage wird gerichtet. Es wird durchgängig geredet, Informationen werden ausgetauscht, Maßnahmen angesagt. Es geht um Leben und Tod, jede Sekunde zählt. Irgendwann ist klar: Breuer hat eine komplexe Fraktur des Beckens und muss sofort in den Operationsaal, weil er innerlich verblutet und deshalb „profunde Herz-Kreislauf-Probleme“ bestehen, wie Frank Wappler erklärt, der Chef der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin der Kliniken der Stadt Köln.
Marko Breuer ist eine menschengroße Plastikpuppe, die atmen, blinzeln – und sterben kann
Hier endet das Szenario. Die Ärzte und Pflegekräfte atmen durch und Marko Breuer wird wieder als das gesehen, was er ist: eine menschengroße Plastikpuppe, die atmen, blinzeln – und sterben kann.
Aktuell ist diese Puppe, die sonst dem Training von Medizinern und anderem Fachpersonal dient, wichtiger Teil eines wegweisenden, mit EU-Geldern geförderten Projektes, das die Kliniken am Dienstag gemeinsam mit der Deutschen Telekom und dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme mit Sitz in Sankt Augustin bekannt gegeben haben. Man arbeitet an der Entwicklung eines KI-Agenten, der künftig in den Notaufnahmen von Krankenhäusern helfen soll, Leben zu retten. „Mitte des kommenden Jahres wollen wir mit einem Prototypen live gehen“, sagt Jerome Defosse, Leitender Oberarzt am Krankenhaus Merheim und Leiter der KI-Forschungsprojekte der dortigen Anästhesiologie und operativen Intensivmedizin.
Zunächst soll die KI-Anwendung, die direkt im Krankenhaus auf eigenen Rechnern ohne Verbindung zum Internet oder über die Open Telekom Cloud datengeschützt betrieben werden soll, dabei helfen, das Kommunikations-Chaos während einer Notfallsituation in einem Schockraum zu sortieren. Die KI dokumentiert und verfolgt die Gespräche der Ärzte und Pflegekräfte und erstellt auf einem großen Bildschirm eine Übersicht der genannten Informationen, die sich im Verlauf anpasst. So müssen dieselben Fragen nicht mehrfach gestellt werden, etwa nach Allergien oder Vorerkrankungen des Patienten, und alle Maßnahmen werden dokumentiert – was den Medizinern die anschließende Schreibtischarbeitszeit für die obligatorische Erstellung von Protokollen verkürzt.
Im Schockraum, wo es um Leben und Tod geht, wird häufig zu viel und zu laut kommuniziert
„Im Schockraum will jeder sein Bestes geben und deshalb werden Fragen zehnmal gestellt, obwohl es ja nur eine Antwort gibt“, sagt Chefarzt Wappler: „Das ist typisch für so eine Stresssituation, in der es um Leben und Tod geht und viele Menschen auf einem Haufen sind. Es wird zu viel und zu laut kommuniziert.“ Seine große Hoffnung ist, dass der KI-Agent künftig den Stress im Schockraum reduzieren und die Arbeit am Patienten damit noch besser werden kann.
Bis dahin ist allerdings noch viel Arbeit nötig. Rund 100 Szenarien wie die am Beispiel des fiktiven Bauarbeiters beschriebene sollen an der Puppe durchgespielt werden. In voller Besetzung mit sechs Ärzten und Pflegern, die alle ein Mikrofon tragen. Mit den Spracherkennungs-Tools des Fraunhofer Instituts wird alles ausgewertet, was gesprochen wurde – und echte Ärztinnen und Ärzte checken anschließend, ob die KI alles richtig verstanden hat. 15 Szenarien sind aktuell schon geschafft, erzählt Dafosse. So wird der KI-Agent nach und nach geschult, bis er im kommenden Sommer hoffentlich zum ersten Mal in einer realen Schockraum-Situation eingesetzt werden kann.
In Merheim werden die Mediziner rund 600 Mal pro Jahr in den Schockraum zu schwerstverletzten Patienten gerufen. Häufig nach Auto-, Motorrad- oder Fahrradunfällen oder nach Bränden oder Explosionen. Zunehmend kämen auch ältere Männer, sagt Wappler, „die auf den Apfelbaum steigen oder die Regenrinne reinigen wollen, und dann drei, vier, fünf Meter von der Leiter fallen und wirklich schwerstverletzt sind“. Seit fast vier Jahren kämen auch immer wieder lebensgefährlich verletzte Soldaten aus der Ukraine nach Köln, „mit Verletzungen, die wir bislang kaum kannten“.
In all diesen Fällen könnte die KI die Mediziner künftig unterstützen, vor allem auch in kleineren Kliniken, wo solche Szenarien seltener vorkommen. Wir haben ganz viele Experten im Team und überlegen schon, wie wir das System perspektivisch weiterentwickeln können, sagt Defosse: „Erstmal bin ich aber überzeugt, dass der KI-Agent mehr Ruhe und mehr Fokus in den Schockraum bringen kann.“

