Meistgelesen 2022Pflegenotstand –„Ich kann für die Zustände keine Verantwortung übernehmen“

Lesezeit 12 Minuten
Kira Hülsmann bei einer kurzen Pause vor dem Herzzentrum

Kira Hülsmann bei einer kurzen Pause vor dem Herzzentrum

  • Seit elf Wochen streiken die Beschäftigten der sechs nordrhein-westfälischen Unikliniken für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal. Eine Einigung deutet sich erst jetzt an.
  • Wir haben zwei Pflegerinnen der Unikliniken Köln und Bonn durch eine Schicht im Notbetrieb begleitet. Sie arbeiten nachts und organisieren tagsüber den Streik.
  • Die multimedial erzählte Geschichte einer Zerreißprobe zweier Frauen. Zwischen ihren Patienten, ihrem Streik und sich selbst.
  • Dieser Text ist zuerst am 17. Juli 2022 erschienen.

Für den Mann mit der Sauerstoffflasche hatte einfach niemand Zeit. Die Pflegerin brachte ihn zur Radiologie der Uniklinik Bonn, stressige Schicht, Röntgenabteilung und Patiententransport unterbesetzt. Man untersuchte ihn, setzte ihn ins Wartezimmer. Sobald im Patiententransport jemand eine freie Minute habe, hole man ihn wieder ab, hieß es.

Als der Patiententransport nach drei Stunden den Warteraum betrat, kam für den Mann jede Hilfe zu spät. Seine Sauerstoffflasche war leer. Er war im Wartezimmer langsam erstickt. 

So steht es in einem anonymen Erfahrungsbericht, den Streikende der nordrhein-westfälischen Unikliniken veröffentlicht haben.

Alles zum Thema Universitätsklinikum Köln

Andrea Lapp, 42 Jahre alt, arbeitet in der Notaufnahme der Uniklinik Bonn, erzählt am Telefon eine ähnliche Geschichte. Von einer unterbesetzten Schicht, von den Schwerverletzten in den Schockräumen, zu denen sie eilten. Von einem Patienten, den sie dafür alleine lassen mussten. Vom Arzt, der später sah, wie der Patient bewusstlos am Boden lag. Der Arzt seinen Namen brüllte und keine Reaktion erhielt. „Er hat überlebt“, sagt Andrea Lapp.

Weiter ins Detail gehen möchte sie nicht, nicht öffentlich. Auf Anfrage lässt die Klinik offen, ob es aufgrund des personellen Notstands bereits zu lebensbedrohlichen Situationen gekommen ist. „Wir sind von guter Pflege weit entfernt. Eigentlich machen wir keinen guten Job, wir begrenzen den Schaden. Damit möglichst alle überleben.“

Nachtschichten und Streikorganisation

Andrea Lapp rotiert seit elf Wochen zwischen Notdienst, Streik und Verhandlung. Der neue Alltag von Kira Hülsmann sieht ähnlich aus: Sie arbeitet im Herzzentrum der Uniklinik Köln, gleichzeitig protestiert sie am Streikzelt gegenüber. Beide sagen: Wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern, werden sie den Job, den sie lieben, verlassen. Beide haben sich eine Nacht lang bei ihrer Schicht unter Streik-Bedingungen begleiten lassen: Über kurze Anrufe, Sprachnachrichten, und, in Hülsmanns Fall, kurze Gespräche auf dem Vorplatz des Herzzentrums.

Seit elf Wochen streiken die Beschäftigten der sechs nordrhein-westfälischen Unikliniken. Sie fordern nicht etwa mehr Geld. Sie wollen bessere Arbeitsbedingungen, einen fairen Ausgleich für Überlastung, mehr Personal, einen erträglichen Arbeitsalltag. Für sich selbst, aber auch für die Patienten, sagen sie. Damit sich Fälle wie die von dem Mann mit der Sauerstoffflasche nicht wiederholen. Seit elf Wochen arbeiten die Unikliniken nur mit Notbesetzung, verschiebbare Operationen werden abgesagt, die Anzahl der Betten ist stark reduziert. Die Unikliniken verlieren Geld, sie klagen über eine massive Beeinträchtigung der Gesundheitsversorgung. In Bonn versuchte die dortige Uniklinik vor Gericht ein Ende des Streiks zu erwirken. Erfolglos.

Dienstbeginn an der Uniklinik Köln

21 Uhr, Intensivstation des Herzzentrums, erster Stock. Kira Hülsmann wird sich diese Nacht um zwei Patienten kümmern: Eine Frau, stabiler Zustand, mit neuem Ventil an der linken Herzkammer, und einen Mann, über 60 Jahre alt, mit frisch rekonstruierter Herzklappe. Typisches Herzzentrum-Klientel, sagt sie. Als der Spätdienst die Station verlässt, kontrolliert Hülsmann die Alarmgrenzen der Monitore ihrer Patienten, die Einstellungen an den Beatmungsgeräten, die Perfusoren, die unermüdlich Medikamente ins Blut pumpen. Sie leuchtet in die Pupillen ihrer Patienten, hört ihre Lungen ab, spricht mit ihnen, wenn sie wach sind. Überprüft den Blasenkatheter und die Drainagen, über die das Wundsekret abläuft. Sieht es blutig aus? Übersieht sie etwas, kann es für ihre Patienten gefährlich werden.

Sie druckt Laborwerte aus, dokumentiert den Blutdruck, füllt Medikamente auf. Und ahnt schon, dass sie die operierte Frau in dieser Nacht nicht oft sehen wird: Dem Mann mit der Herzklappenrekonstruktion geht es schlecht.

Seine Niere arbeitet schwach, viel zu schwach. Die Elektrolyt-Werte entgleisen, der pH-Wert sinkt, das Blut ist zu sauer. Hülsmann fühlt über seine Hände und Füße. Kalt. Auch der Blutdruck bricht ein. Um sein Bett bildet sich eine Traube von Pflegerinnen und Ärzten, sie beraten sich, ordnen mehr kreislaufunterstützende Medikamente an. Der Patient blutet stark nach seiner Operation, mehrere Blutkonserven haben sie schon für ihn geleert. Eine halbe Stunde nach Mitternacht beschließen die Ärzte: Wenn sich sein Zustand in den nächsten 30 Minuten nicht bessert, muss er ans Dialyse-Gerät, vielleicht auch zurück in den OP-Saal.

„Für die Patienten ist es gut, dass wir mit dieser Besetzung arbeiten.“ 

0.40 Uhr. Erste Pause. Kira Hülsmann, 27 Jahre alt, blond gelockte, zu einem Dutt geknotete Haare, blauer Pflegekittel, steht vor dem taghell erleuchteten Eingang des Herzzentrums und dreht sich den Tabak ins Blättchen. Während der Schicht haben ihre Kollegen Plakate an das Gebäude schräg gegenüber des Herzzentrums geklebt: „Schwarzbuch Krankenhaus: Wir brechen das Schweigen“, steht dort, darunter ein QR-Code und ein Erfahrungsbericht aus einer nordrhein-westfälischen Uniklinik. Es geht um die Wiederbelebung eines Kindes, durchgeführt auf einer unterbesetzten Station. In dem Schwarzbuch ist auch von dem toten Mann mit Sauerstoffflasche zu lesen.

Hülsmann zündet sich die Zigarette an und sagt: „Für unsere Patienten ist es gut, dass wir heute mit dieser Besetzung arbeiten.“ Wegen des Streiks darf die Uniklinik deutlich weniger Betten besetzen als sonst. Und dadurch, sagt Hülsmann, hat das Herzzentrum ausnahmsweise ausreichend Pflegekräfte. Um ihre andere Patientin hat sich in der Zwischenzeit eine Kollegin gekümmert. „Ansonsten würde ich gerade bei ihr stehen und vier Stunden nacharbeiten“, sagt sie. „Unsere heutige Besetzung ist kein Alltag.“

Die Uniklinik Köln räumt auf Anfrage ein, dass Pflegekräfte vor dem Streik in Einzelfällen mehr Patienten zu versorgen hatte als in den laufenden Notdiensten. Pandemiebedingt und wegen akuter Notfälle, heißt es.

Nofaufnahme Bonn: Keine Zeit zum Nachdenken

Dieselbe Nacht, 30 Kilometer südlich. Zwölf Pflegende sitzen noch am Bonner Streikposten, dann werden sieben von ihnen in ihre Notdienste geschickt. Andrea Lapp ist eine davon. Mit drei weiteren Pflegekräften soll sie heute Nacht in der Notaufnahme erstversorgen. Der Spätdienst arbeitet fast eine Stunde länger, um das Chaos für die Nachtschicht beherrschbarer zu machen. Die Notaufnahme ist die anonyme Abteilung einer Klinik: Hier wird aufgenommen, sortiert, wegtransportiert, überlebt, manchmal gestorben. Ununterbrochen muss sich Lapp auf neue Patienten und Krankheitsbilder einstellen, weiß nur grob, was sie erwartet. Nachdenken kostet Zeit, Nachdenken kann Leben gefährden.

Ein Hubschrauber, ein Mann Anfang 70. Klagt zuhause über Kopfschmerzen, fällt um, beim Sturz schlägt er sich den Kopf an. Die Tochter findet ihn. Hirnblutung. Im Flug beatmet und intubiert. Schockraum. Die Tochter wartet auf dem Flur. Die Kollegin kümmert sich um beide. Andrea Lapp liebt, was sie tut, aber den Respekt vor der Grenze zwischen Leben und Tod, die auf ihrer Notaufnahme verläuft, hat sie sich in 26 Jahren Pflege nie abgewöhnt. Sie geht nicht gerne in den Schockraum, vor allem nicht alleine.

Das Schicksal der anderen 16 Patienten liegt jetzt in ihrer Verantwortung. Eine Patientin wartet seit zwei Stunden auf ihren Gips: Keine Zeit, keine Priorität. Vielleicht stirbt auf einer anderen Station gerade ein Kind, die Notaufnahme muss das Kriseninterventionsteam vermitteln. Für die Eltern. Damals, als sich ein 15-jähriger Junge in den Tod stürzte und sie vergeblich in der Notaufnahme um sein Leben kämpften, sagt Lapp, da war keine Zeit für Aufarbeitung im Team. Auch nicht, als ein zweijähriges Mädchen von einem Traktor überfahren wurde. „Wenn uns solche Schicksalsschläge nicht mehr traurig machen, dann sind wir im falschen Beruf“, sagt sie. Es ist eine Forderung im Tarifvertrag: Zeit, über solche Erlebnisse sprechen zu können

Ruhiggestellt

Vor dem Herzzentrum in Köln, 3.20 Uhr. Der Patient mit der Herzklappenrekonstruktion hat sich nicht stabilisiert. Vorhin habe sie ihn an ein mobiles Beatmungsgerät angeschlossen und dem OP-Team übergeben, sagt Hülsmann. „Bleibt er auf dem jetzigen Niveau, wird er es nicht überleben.“ Erst vorgestern hatten sie einen noch stärker blutenden Patienten, ein älterer Mann, sechs Liter Spenderblut flossen in seinen Körper, sechs Liter verlor er. Einen Tag später starb er.

Heute denke sie nicht mehr viel an ihn, sagt Hülsmann. Sonst könne sie ihren Job nicht machen. Andere Fälle belasten sie mehr. Der des jungen Patienten vor drei, vier Jahren zum Beispiel, der wegen einer Ausbeulung an der Hauptschlagader auf die Intensivstation kam. Während er mit seiner Frau telefonierte, platzte das Aneurysma, er verblutete sofort. Der 18-Jährige, der nach einem Ertrinkungsunfall eingeliefert wurde. Die junge Mutter, die direkt nach der Entbindung auf ihre Station kam und dort starb. Die Schwangere an der Herz-Lungen-Maschine.

Die heutige Schicht ist eher ruhig. Und trotzdem, findet Kira Hülsmann, wird sie ihren Patienten nicht gerecht. „Wir müssen viele Abstriche in der Grundpflege machen“, sagt sie. „Ich überlege es mir oft zweimal, ob ich dem Patienten eine ausgiebige Mundpflege gebe oder zweimal durch den Mund wische.“ Viele Patienten möchten mit ihr reden. Ich muss weiter, sagt sie dann, komme aber gleich wieder. Meistens bedeutet das: In zwei Stunden. Andere Patienten sind verwirrt, wollen sich die Schläuche herausreißen.

Theoretisch könne man ihnen erklären, was genau passiert, sagt Hülsmann. Sie eng begleiten, bis sie sich beruhigt haben. Die Verwirrung nicht medikamentös, sondern durch Präsenz behandeln. Doch dafür fehle meist die Zeit. Also reichen die Pflegekräfte ihnen von Ärzten verordnete Schlafmittel. Warten, bis die wirken und gehen ins nächste Zimmer. Die Uniklinik schließt dieses Vorgehen auf Anfrage nicht aus, verweist aber darauf, dass entsprechende Medikamente vor allem bei besonders gefährdeten Patienten zum Einsatz komme, um diese zu schützen.

Covid-„Infektgang“ ohne Klingel und Toilette

Notaufnahme in Bonn. Eine Frau sitzt mit Halsschmerzen im Wartebereich. Corona-Symptom. Das Protokoll sieht einen Test vor. Positiv. Ja, das weiß ich, sagt die Frau, aber ich glaube nicht an Covid. Geimpft? Nein. Lapps Kollegin erhebt die Stimme: Sie gefährden andere Patienten, Sie gefährden die Mitarbeiter. Die Frau wird in den „Infektgang“, wie Lapp ihn nennt, geschoben; eine Art Halbflur, keine Klingeln, keine Toiletten, nur ein Toilettenstuhl und zwei Trennwände. Für mehr reichte der Platz nicht.

Die Uniklinik Bonn bestätigt die Isolierung von Covid-Patienten in der Notaufnahme, diese hätten jedoch sehr wohl die Möglichkeit zu Toilettengängen und könnten Pflegekräfte durch eine Klingel benachrichtigen. Zu dem “Infektgang“ ohne Toilette, der in Videoaufnahmen, die dem “Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegen, zu erkennen ist, äußert sich die Klinik nicht.

Fünf Stunden Notaufnahme, dann auf die Station

Unterdessen schlechte Nachrichten von dem Patienten Anfang 70. Die Hirnblutungen haben sein Bewusstsein für immer ausgeschaltet. Keine Lebensperspektive. Eine Patientenverfügung. Künstlich will er nicht weiterleben. Er wird auf eine Station verlegt, er soll in Würde sterben. Der Atemschlauch wird entfernt. Die Kollegin, die den Mann und die Tochter betreut hat, putzt. „Die Hütte aufzuräumen, das ist jetzt ihr Ventil“, sagt Lapp. Gott sei Dank habe sie den Mann selbst nicht kennengelernt.

Als sie ein paar Minuten Zeit hat, erklärt Lapp einem wackeligen Patienten seine Unterarm-Gehstützen. So minimiert sie sein Risiko zu stürzen. Es ist selten, dass sie dafür Zeit hat. Das gilt auch für Gespräche mit Angehörigen: „Bitte gedulden Sie sich.“ Das schafft nicht jeder. Seit ein Patient vor wenigen Jahren das Mobiliar der Notaufnahme zerstört und eine Unfallchirurgin gewürgt hat, gibt es einen Sicherheitsdienst rund um die Uhr. Auch Lapp wurde schon bespuckt und beleidigt: „Geh sterben.“

Ein Patient wird jetzt von der Notaufnahme auf eine Station verlegt. Fünf Stunden lag er bei Lapp, Bauchschmerzen, man dachte an einen Darmverschluss. Stattdessen: Nierenversagen. Ständig rutschte er von der Trage. Ein „schmales Persönchen“ sei das gewesen, sagt sie, man hätte sich eigentlich mehr kümmern müssen.

OP-Team kann Blutungen stoppen

In Köln liegt der Mann mit den Blutungen noch im OP-Saal, da rast die Herzfrequenz einer Patientin auf über 200. Der Monitor löst aus, Hülsmann holt einen Defibrillator, ihre Kollegen kleben die Pads auf die Brust. Wäre die Station schlecht besetzt, sagt Hülsmann, hätte jetzt statt dreien nur eine Kollegin am Bett gestanden. „Wenn man so eine Situation allein bewältigen muss, erlebt man eine ganz andere Form von Stress.“

Dann gute Nachrichten aus dem OP-Saal: Blutungen lassen nach. „Aber er entgleist uns komplett mit den Elektrolyten.“ Sein Blut ist noch saurer als vorher, Muskelzellen sterben ab, Hülsmann stellt die Beatmung hoch. Die Körpertemperatur ist niedrig, sie wärmen. Ein Arzt bespricht mit Hülsmann die weitere Behandlung: Gerinnungstherapie, mehr Kreislaufmedikamente, zwei Gramm Fibrinogen, zwei Gramm Tranexamsäure, Milrinon, Antibiotika, Dialyse. Mehrere Liter Spenderblut sind inzwischen in den Mann geflossen, acht Konserven und das, was im OP-Saal dazukam.

„Es sagt dir nicht jeder: Toll, dass du das machst.“

4 Uhr. Die Bonner Notaufnahme ist kurz leer, die HNO-Ärztin hat vier Notfälle hintereinander wegbearbeitet. Die letzten drei Stunden laufen entspannt, einige Patienten noch, nichts Lebensbedrohliches, Lapp steht in dieser Nacht in keinem Schockraum. Fast eine Stunde Rückfahrt nach Hause, in die Eifel. Lapp muss nach Nachtschichten oft rechts ranfahren. „Fenster auf, Musik laut, so mache ich das oft, damit ich auf dem Weg keinen Unfall baue.“ Es ist der erste von acht Nachtdiensten in Folge. Früher habe sie 20 Mal im Monat nachts gearbeitet: „Die sieben Schichten bekomme ich auch noch hin“, sagt sie und es klingt fast wie eine Rechtfertigung.

Eigentlich könnte sie sich als Tarifkommissionsmitglied freistellen lassen, erzählt sie auf dem Weg in die Eifel. Dann müsse allerdings ein Ersatz gefunden werden. Für die Nachtschichten ist das besonders schwierig. Die Verhandlungen belasten auch die Kollegen. „Es sagt dir nicht jeder: Toll, dass du das machst.“ Der Preis für die Verhandlungen, der monatelange Notdienst, er nagt an vielen Pflegerinnen und Pflegern. In erster, zweiter und dritter Reihe, am Verhandlungstisch, im Bett und dazwischen.

„Wenn sich nichts ändert, werde ich den Job nicht mehr lange machen.“

Kurz nach sieben Uhr. Vor dem Kölner Herzzentrum scheint jetzt die Sonne, Kira Hülsmann hat den blauen Pflegekittel durch Jeans und schwarze Bomberjacke ersetzt. Eine Kollegin verspricht, sie darüber zu informieren, ob der Mann überleben wird. Er schafft es, stellt sich später heraus.

Unter normalen Bedingungen, sagt Hülsmann, wäre sie bei dieser Nachtschicht noch mehr ins Rotieren gekommen. „Meine andere Patientin hätte ich noch mehr vernachlässigt, als ich es eh schon tun musste.“ Und trotzdem bedeutet der Streik auch für sie eine Doppelbelastung. „So langsam wird es verdammt anstrengend.“ Nach Feierabend und an ihren freien Tagen protestiert sie am Streikzelt, leitet dort ganze Schichten. Die Aufregung ist verflogen, die Hoffnung zermürbt.

Mit einem Monat habe sie gerechnet, vielleicht ein bisschen mehr, sagt Hülsmann, aber nicht mit elf Wochen. Das Ergebnis der Verhandlungen wird über ihre Zukunft entscheiden. „Ich weiß nicht, wie ich hier weiterarbeiten soll, wenn wir diesen Tarifvertrag nicht kriegen“, sagt sie. „Ich kann für die Zustände keine Verantwortung übernehmen. Ich will sie auch nicht übernehmen. Wenn sich nicht etwas ändert, werde ich den Job nicht mehr lange machen.“

Schräg gegenüber vom Herzzentrum haben sich ein paar dutzend Pflegekräfte am Streikzelt versammelt. Es ist ein kühler Sommermorgen, die Hände umschlingen Kaffeebecher. Sie sind abrufbar, auf Bereitschaft. Die Stimmung ist gedrückt, der Arbeitskampf schlaucht. Wenn Notdienste unbesetzt sind, rufen die Stationen bei der Streikleitung an. Dort hebt eine junge Frau das Megafon: „Einmal die Kinderintensiv zu uns.“ Drei Frauen treten vor, die Streikleitung wühlt durch ihre Zettel. Applaus, als sie sich zum Dienst melden und das Zelt verlassen. Ein Intensivpfleger sagt, er habe letzte Nacht drei Stunden geschlafen. „Wir alle wollen einfach nur etwas unterschreiben und wieder normal arbeiten gehen.“

KStA abonnieren