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Kölner Psychologe erklärtDie Deutschen hinter dem Verdrängungs-Vorhang

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PRODUKTION - 09.09.2025, Nordrhein-Westfalen, Köln: Rheingold-Gründer Stephan Grünewald sitzt bei einem Interview über sein neues Buch "Wir Krisenakrobaten - Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft" in einem Besprechungsraum. (zu dpa: «Deutsche hinter dem Verdrängungsvorhang?») Foto: Henning Kaiser/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Rheingold-Gründer Stephan Grünewald sitzt bei einem Interview über sein neues Buch „Wir Krisenakrobaten – Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“ in einem Besprechungsraum.

Krisenangst und Rückzug ins Private fördern soziale Spaltung und lähmen die Demokratie, warnt Stephan Grünewald. Sein neues Buch „Wir Krisenakrobaten“ stellt der Kölner Psychologe bei „frank&frei“ vor.

In seinen Forschungen zu den Ängsten der Deutschen beobachtet der Psychologe Stephan Grünewald grundlegende Veränderungen in den letzten Jahren. „Die zentrale Angst ist die vor Ohnmacht und Autonomieverlust“, sagte der Marktforscher und Mitgründer des Kölner Rheingold-Instituts im Interview der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Dabei sei die Corona-Zeit ein Auslöser gewesen, verstärkt durch weitere Krisenerfahrungen.

Das Gefühl, alles selbst steuern zu können, sei bei vielen zusammengebrochen. Hinzu komme eine wachsende „Angst vor dem sozialen Klimawandel“: 89 Prozent der Deutschen hätten „das Gefühl, in einer entzweiten Gesellschaft zu leben, in der die Aggressivität immer weiter zunimmt“ und wünschten sich mehr Verbundenheit.

Krisenmüde und überfordert ins persönliche Schneckenhaus

„Angesichts der vielen Krisen in der Welt erleben wir gerade eine große Rückzugsbewegung ins persönliche Schneckenhaus“, so Grünewald weiter. Dabei würden globale Bedrohungen wie Krieg oder Klimawandel häufig ausgeblendet. Stattdessen werde eher Alltägliches als besonders bedrohlich empfunden: „Alles, was das Leben im Schneckenhaus gefährdet, nehmen die Menschen aber sehr wohl wahr: die Inflation, die unpünktliche Bahn, die marode Infrastruktur, die Personalengpässe in der Kita.“

Eine junge Frau sitzt alleine auf dem Boden. Doch gerade die Vereinzelung ist nicht nur persönlich gefährlich, sondern auch gesellschaftlich.

Eine junge Frau sitzt alleine auf dem Boden. Doch gerade die Vereinzelung ist nicht nur persönlich gefährlich, sondern auch gesellschaftlich.

Ein solcher Rückzug könne zwar kurzfristig für „Selbststabilisierung“ sorgen, verstärke aber langfristig die Vereinzelung, warnte der Experte. Er könne für eine Wagenburgmentalität sorgen und Kompromissfähigkeit und produktiven gesellschaftlichen Streit verhindern. Und das sei gefährlich in einer Zeit großer Umwälzungen.

Was es jetzt braucht: ein greifbares Zukunftsziel, sagt der Psychologe

Als Gegenmittel rät Grünewald den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft zu klarer Ansprache der Bevölkerung und mehr Beteiligung. Nötig seien „ein greifbares Zukunftsziel und konkrete Handlungsdirektiven. Die Menschen brauchen das Gefühl: Da geht es lang, und ich kann mich daran beteiligen.“ Beim Energiesparappell nach Beginn des Ukrainekriegs zum Beispiel habe dies gut funktioniert.

Um die Vereinzelung zu überwinden und die Verbundenheit zu stärken, empfiehlt der Psychologe, mehr Orte für Begegnung und gemeinsam Erlebtes zu schaffen. Konkret nennt er mehr öffentlich zugängliche Räume und Feste, mehr gemeinschaftliche Erlebnisse in Betrieben und Schulen und ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für junge Erwachsene: „Dass man in jungen Jahren seinen engen Horizont überschreitet und mit anderen Milieus und Lebenswirklichkeiten in Kontakt tritt – das ist die Basis für Toleranz.“ (kna)

Grünewald mit Buchpremiere bei „frank&frei“

Am 9. Oktober erscheint Stephan Grünewalds neues Buch „Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch). Wieder hat der Autor die Deutschen „auf die Couch gelegt“. Sein Befund in Krisenzeiten: Während das Vertrauen in die Gesellschaft einen Tiefpunkt erreicht hat, bleiben die Menschen privat optimistisch.

In Köln feiert das Buch am Donnerstag, 16. Oktober, seine Premiere bei frank&frei, der Talkreihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in der Karl-Rahner-Akademie. Gastgeber Joachim Frank spricht mit dem Autor über seine Zeit-Diagnosen: Welche Verhaltensmuster und inneren Haltungen entstehen in Zeiten des Umbruchs - und was verrät da über uns? Das Gespräch eröffnet spannende Einblicke in die kleinen und großen Kunststücke der Krisenbewältigung – und lädt dazu ein, die überraschenden Strategien der Menschen als Inspirationsquelle für das gesellschaftliche Miteinander zu begreifen.

Zur Anmeldung geht es hier.