Gefängnis-Psychologin„Viele Häftlinge in Köln haben schwere psychische Störungen”

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Sandra Esser, JVA Köln

  • Sandra Esser ist seit wenigen Wochen Leiterin des Psychologischen Dienstes in der JVA Köln.
  • Seit fast 20 Jahren betreut die 45-Jährige im Gefängnis Mörder, Vergewaltiger und Kleinkriminelle.
  • Die gefährlichsten Straftäter, sagt Esser, seien sexuelle Sadisten – eine kleine Gruppe unter den Sexualstraftätern, die nicht behandelbar seien.
  • Ein Gespräch über die schwierige Arbeit hinter Gittern, über die Sorge vor Übergriffen und die wachsende Zahl psychisch Kranker in den Gefängnissen.
  • Teil 14 unserer Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“

Köln – Frau Esser, welche Straftäter sind die gefährlichsten? Nach meiner Erfahrung sind es die sexuellen Sadisten, eine sehr kleine Gruppe unter den Sexualstraftätern, die bislang kaum zu erreichen ist. In der Öffentlichkeit wird ja viel über die Gefährlichkeit von Sexualstraftätern diskutiert. Dazu muss man aber auch ganz deutlich sagen: Für einen Großteil der Sexualstraftäter gibt es bewährte und wirksame Behandlungsprogramme. -> Hier alle Folgen der Serie lesen! Was macht diese sexuellen Sadisten aus?

Sie verspüren Erregung durch die Erniedrigung ihrer Opfer. Das Ausmaß der Störung, die dieser Täterstruktur zugrunde liegt, ist so schwerwiegend, dass man diese Menschen mit den aktuellen Methoden nur schwer behandeln kann. Solche Fälle gehen einem nahe, ich selbst erinnere mich an einen besonders schwerwiegenden Fall, der mich sehr berührt hat.

Worum ging es da?

Das waren zwei Sexualstraftäter, die ich als Abteilungsleiterin in der Sozialtherapie hatte – eine Wohneinheit mit 30 bis 50 Inhaftierten innerhalb einer Gefängnisanstalt, bei denen eine besonders hohe Gefahr besteht, dass sie rückfällig werden und erheblichen Schaden anrichten. Deshalb werden sie besonders intensiv behandelt. Diese beiden Männer waren wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt worden. Sie haben die Therapiesitzungen besucht und sich parallel dazu heimlich Kurzgeschichten geschrieben.

Bei einer Haftraumkontrolle wurden diese Texte sichergestellt. Ich habe schon vieles gelesen, aber diese Geschichten waren so schlimm, ich konnte sie anfangs nicht zu Ende lesen, habe sie zweimal weggelegt. Es waren Fantasien auch mit Kleinkindern. Ich dachte: Mit welchem Dreck muss ich mich teilweise befassen? Und dann habe ich das Gespräch mit den Gefangenen gesucht. Wir mussten ja gucken, wie sie auf den Vorwurf reagieren und überlegen, wie wir mit ihnen weiter verfahren sollten.

Wie lief das Gespräch?

Beide waren völlig unbeeindruckt, unemotional. Keine Kooperation. Der eine meinte: „Frau Esser, was soll ich sagen? Ich bin halt vielseitig sexuell interessiert.“ Er bagatellisierte das: „Das ist ja anatomisch gar nicht möglich, was ich da geschrieben habe.“ Wir haben keinen Weg gesehen, mit den beiden Männern weiterzuarbeiten. Wir haben sie aus der Sozialtherapie abgelöst und in ihre Stammanstalten zurückgeschickt. Da sitzen sie heute noch. Der jüngere hat Sicherungsverwahrung. Ich weiß nicht, was passieren wird. Bis jetzt zeigt der Vollzugsverlauf, dass da keine positive Entwicklung ist.

Mit welchem Gefühl gehen Sie in solche Gespräche? Haben Sie Angst?

Das waren jetzt Kindesmissbraucher, ich war kein Zielobjekt. Bei Vergewaltigern ist das anders. Da braucht man feine Antennen. Wenn ich merke, mein Gegenüber sexualisiert oder benutzt unsere Gespräche für etwas anderes, dann bin ich nicht die geeignete Person, um mit ihm zu sprechen. Wenn sie von ihren sexuellen Fantasien erzählen mit einer Freude, wo man das Gefühl hat, die aktivieren sich gerade wieder, mache ich das auch zum Thema, spreche das an – und wenn sich das nicht ändert, dann nehmen wir einen Wechsel im psychologischen Dienst vor.

Wie schützen Sie sich? Sind Sie bei diesen Gesprächen allein mit dem Gefangenen?

Ja. Ich könnte bei Bedarf auch jemanden mit dazu nehmen. Ein ganz wichtiges Instrument ist natürlich die deeskalierende Gesprächsführung. Wir haben im Vollzug darüber hinaus Sicherheitskonzepte, dazu gehören technische Hilfsmittel, zum Beispiel habe ich immer ein Notrufgerät dabei. Ich musste es noch nie auslösen, aber ich darf eben auch nie vergessen, wo ich arbeite.

Sie sprachen von den beiden Missbrauchstätern, die keinerlei Einsicht in ihre Taten haben. Ist das die Regel bei Sexualstraftätern?

Das kommt immer auf den Einzelfall an. Täter, die keine chronifizierten Neigungen haben, zeigen sich in der Regel deutlich reflektierter und veränderungsbereiter. Andere wissen oft oder glauben zumindest oft zu wissen, was ein Psychologe oder eine Psychologin hören möchte. Und dann ist die Frage, wie man dahinter kommt, ob der das so meint, wie er es sagt – oder ob er nur ein aufgesetztes Bild vermittelt. Manche haben auch schon viele Therapien hinter sich und kennen die Fachbegriffe, benutzen sie aber wie Worthülsen und können sie nicht auf ihren Alltag übertragen. Das lässt sich anhand ihres Verhaltens überprüfen.

Wahre Einsicht und Reue erleben Sie demnach selten?

Es ist schwer festzustellen, was „wahre Einsicht“ ist. Zu Beginn versuchen viele, ihre Straftaten zu bagatellisieren oder anderen die Verantwortung zuzuschieben. Aber im Verlauf der Behandlung kann es bei einem Sexualstraftäter schon zu einem Einbruch führen, wenn er erkennt, wer er ist und was er getan hat. Wir arbeiten zum Beispiel mit frei zugänglichem Filmmaterial an Opferberichten oder auch fiktiven Opferbriefen. Viele Täter haben sich damit nie auseinandergesetzt und sagen dann plötzlich: Ogott, was habe ich getan? Manche äußern, nicht mehr leben zu wollen. Vereinzelt hatte ich Inhaftierte, die gesagt haben: Ich sollte wahrscheinlich besser nie mehr rauskommen. Oft schwingt bei ihnen die Angst mit, dass sie es draußen nicht packen.

War das eigentlich schon immer Ihr Berufswunsch? Mit Menschen zu arbeiten, die schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten begangen haben?

Psychologen absolvieren drei Praktika während des Studiums. Ich habe eines im Gefängnis gemacht und danach war mir klar, dass ich da hin will. Ich wollte einfach das Gefühl haben, etwas Wichtiges für die Gesellschaft zu tun. Ich war schon immer viel in der Jugendarbeit unterwegs, und habe nach dem Studium 2001 angefangen, im Gefängnis mit jugendlichen Inhaftierten zu arbeiten. Das passt gut für mich.

Was reizt Sie daran, mit Schwerkriminellen zu arbeiten?

Ich finde es sehr spannend, in fremde Lebenswelten einzutauchen, ich als Mittelschichtskind. Ich lerne Biografien kennen, von denen ich früher gar nicht geglaubt hätte, dass es sie gibt. Es reizt mich zu überlegen, welche Ressourcen es bei jedem einzelnen Gefangenen gibt. Wie kann man ihn oder sie so packen, dass sie noch die Kurve kriegen?

Was ist für Sie Erfolg bei Ihrer Arbeit?

Zum Beispiel wenn ich, gerade hier in Köln, in dieser riesigen Anstalt, jemanden, der von der Straße weg verhaftet wird und zum ersten Mal im Gefängnis gelandet ist, soweit stabilisieren kann, dass er die Zeit hier drin auch packt. Viele sind anfangs völlig durch den Wind. Ich kann mir schon vorstellen, dass einen das erstmal umhauen kann. Erfolg ist für mich auch, wenn ich eine gute Diagnostik gemacht habe. Wenn ich glaube, jemanden in seiner Persönlichkeit gut erfasst zu haben. Als Psychologin im Gefängnis kriegt man allerdings nur wenig Rückmeldung. Wenn ich von einem Gefangenen nach der Entlassung nichts mehr höre, ist er vielleicht nicht mehr straffällig geworden, dann wäre das eine positive Rückmeldung.

Umgekehrt stehen Psychologen sofort in der Kritik, wenn zum Beispiel ein Gefangener aufgrund ihrer positiven Prognose Ausgang erhält und nicht mehr zurückkommt – so wie vor einigen Jahren der Straftäter aus Aachen, der seinen beiden JVA-Bewachern in einem Kölner Brauhaus entkommen ist und erst Tage später wieder gefasst wurde. Wie gehen Sie mit solchen Erlebnissen um?

Das ist nicht angenehm für  eine Psychologin. Am Ende entscheidet zwar die Abteilungsleitung darüber, ob eine vollzugsöffnende Maßnahme gewährt wird oder nicht, und nicht die Psychologin. Aber wenn ich das in meinem Gutachten befürwortet habe, trage ich natürlich auch Verantwortung.

Lagen Sie schon mal daneben mit Ihrer Einschätzung?

Ja. Ich hatte befürwortet, dass ein Gefangener alleine Ausgang erhielt. Der hatte seine Strafe fast abgesessen, war seit 15 Jahren verheiratet, hatte fünf Kinder und trug auch immer so ein T-Shirt mit den Fotos seiner Kinder drauf. Er war wegen Fahrens ohne Führerschein inhaftiert, eine Kurzstrafe, nichts Massives, aber er war schon auch ein instabiler Bursche. Ich war dafür, es auszuprobieren – und dann ist er nicht mehr zurückgekommen. Man hat ihn zwei Wochen später bei seiner Frau versteckt in der Wohnung gefunden. Er hatte keine weiteren Straftaten begangen, aber es war halt eine Fehleinschätzung von mir zu sagen, der kommt pünktlich wieder.

Haben Sie sich Vorwürfe gemacht?

Ich habe zuerst in meine Unterlagen geschaut und geprüft, ob ich methodisch etwas falsch gemacht habe. Das hatte ich in diesem Fall aber nicht. Er hatte einfach emotional anders reagiert, als ich gedacht hatte. Das ist eine schwierige Sache. Auf Mikrowellen gibt man Garantien, aber bei Menschen erwartet man von Psychologen, dass sie vorhersagen können, wie sich jemand verhalten wird. Das geht aber nicht. Am Ende sind unsere Prognosen Wahrscheinlichkeitsaussagen. Ich kann nie sagen: Es geht zu null oder zu hundert Prozent gut.

Auf welcher Grundlage treffen Sie Ihre Prognosen?

Besonders für Gewalt- und Sexualstraftäter gibt es umfangreiche Prognoseverfahren, die wir anwenden. Wenn es um vollzugsöffnende Maßnahmen bei schweren Delikten geht, schreiben wir 40 bis 50-seitige Gutachten. Teilweise fordern wir die polizeilichen Ermittlungsakten an, gucken uns die Fotos und Zeugenvernehmungen an. Je schwerer das Delikt, desto strenger muss man prüfen. Aber es bleibt immer ein Restrisiko, und ich denke, das muss eine Gesellschaft auch ertragen.

Was entgegnen Sie Opferschützern, die beklagen, dass Tätern in Deutschland besser geholfen wird als Opfern, die sich oft alleine um Hilfe bemühen müssen?

Ich empfinde das auch als schwierig für die Opfer. Es klingt vielleicht auf den ersten Blick merkwürdig, aber eines meiner obersten Ziele ist der Opferschutz. Opferschutz durch Täterarbeit. Im Prinzip hat jeder Straftäter die Chance, entlassen zu werden. Auch aus einer Sicherungsverwahrung. Aber das ist eben eine Frage der Zeit. Ich sehe es als meine zentrale Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir einen Menschen entlassen, der weniger gefährlich ist für die anderen und der weniger oder im besten Fall gar keine Opfer mehr produziert.

Stimmt eigentlich der Satz, dass jeder Mensch zum Mörder werden kann – wenn die Umstände in einer besonders ungünstigen Konstellation aufeinandertreffen?

Naja, tatsächlich, die Tötung des Lebenspartners ist zum Beispiel so ein Fall. Das kann Menschen betreffen, die aus geordneten Verhältnissen kommen, die nicht vorbestraft sind und im Vorfeld keine Aggressionen aufgewiesen haben. Aber plötzlich schlägt das durch. Dann muss man gucken: Wieso ist der in diese Situation gekommen? Und was ist die geeignete Behandlung? Diese klassischen Trainings zur Impulskontrolle, die darauf abzielen, dass man nicht so schnell aus der Haut fährt, passen bei demjenigen dann nicht.

Kennen Sie einen solchen Fall?

Ja. Ein Soldat, der seine Lebenspartnerin umgebracht hatte. Er sagte zu mir: Ich werde mein Leben lang dafür bezahlen und kann das nie wieder gutmachen. Bei ihm hatte ich das Gefühl, dass seine moralischen Prinzipien fest verankert sind. Die Partnerschaft war laut Gerichtsurteil schwierig, weil die beiden sehr unterschiedlich waren. Der Inhaftierte hatte allerdings eine zwanghafte Akzentuierung: Es musste alles genau so laufen, wie er es haben wollte. Er hatte schon in der Kindheit keine festen Strukturen in der Familie, er war Flüchtling, musste sich früh um die Geschwister kümmern, und dann bilden Menschen häufig so eine zwanghafte Struktur aus. Sie denken: Wenn ich alles kontrolliere, dann habe ich keine Angst. Seine Partnerin sollte alles genau so machen, wie er es wollte, auch im Umgang mit dem gemeinsamen Kind. Und das hat sie nicht gemacht. In einer Situation ist es dann eskaliert, wie er es beschrieben hat. Er hat sie mit einem Hammer erschlagen.

Wie ging es mit ihm weiter?

Er ist jetzt nach jahrelanger Sozialtherapie im offenen Vollzug. Sehr viele Faktoren sprechen dafür, dass er das in den Griff kriegt. Er arbeitet intensiv daran, zulassen zu können, dass andere Menschen einfach auch anders ticken als er. Er hat gute Ressourcen für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt und ein stabiles soziales Umfeld.

Sie sind erst seit April in Köln, haben vorher in den Gefängnissen in Hameln und Siegburg gearbeitet. Was ist in der JVA hier anders?

Köln ist riesig. Es gibt eine weite Brandbreite an Haftformen, an unterschiedlichen Menschen und Delikten. Das macht die Arbeit sehr spannend. Gerade in Köln sind aber auch viele Menschen mit schwerwiegenden psychischen Störungen unter den Gefangenen. Ein Phänomen, das generell zunimmt im Strafvollzug. Und dafür sind wir nicht ausgestattet.

Was bedeutet das?

Im Studium habe ich gelernt: Psychisch Erkrankte kommen in die Forensik oder in eine Klinik, und die Gesunden kommen in den Strafvollzug. Inzwischen haben wir hier aber zunehmend Inhaftierte, die unter Psychosen leiden, das heißt unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Da wünsche ich mir schon, dass wir mehr Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung hätten.

Aber vor Gericht wurde diesen Menschen doch eine strafrechtliche Verantwortung zugestanden?

Ja, das ist so. Aber ich sehe sie ja dann hier. Viele entwickeln im Gefängnis eine noch stärkere Paranoia, weil sie hier nun mal einfach oft kontrolliert werden. Bei manchen ist das händelbar, die reden die mit sich selbst und laufen alleine über den Freistundenhof. Aber andere greifen auch unvermittelt jemanden an, meistens andere Gefangene oder auch Bedienstete. Oder sie verletzten sich selbst oder schmieren ihre Exkremente an die Wände. Man kann diese Menschen zwar mit Kameras überwachen, aber das ist ja keine Perspektive bei einer fünfjährigen Freiheitsstrafe. Sie brauchen keine Gefängnismauern, sondern gehören in eine Fachklinik.

Wie erklären Sie sich, dass dieses Phänomen zunimmt?

Oft sind diese Psychosen drogeninduziert. Das hat zugenommen, seit es viele synthetische Drogen gibt, jedes halbe Jahr kommt etwas Neues auf den Markt. Aber wir können den Betroffenen im Gefängnis oft nicht helfen. Sie wollen auch keine Medikamente nehmen, weil sie keine Störungseinsicht haben. Viele sehen in uns die Mafia, die sie bedroht. Auch die Vollzugsbediensteten müssen da Dinge leisten, für die man eigentlich Pflegepersonal bräuchte. Das ist schon hart.

Man hört, dass auch in den NRW-Gefängnissen immer öfter Clanmitglieder und Rocker landen. Sind die eigentlich erreichbar für psychologische Maßnahmen?

Schwierig. Ich hatte mal mit einem von den Hells Angels zu tun, der einen Bandido umgebracht hatte und dadurch in seiner Rockerhierarchie noch aufgestiegen ist. Er wollte sich auch partout nicht von diesem Milieu lösen. Das war seine ganz eigenständige Entscheidung, die nichts mit einer psychischen Beeinträchtigung zu tun hatte.

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Er sagte zu mir: „Frau Esser, ich verdiene zehnmal mehr als Sie – an einem Tag.“ Wie soll man solche Leute behandeln? Das geht nicht. Man muss sie sicher unterbringen und genau gucken, welche Kontakte sie in der Haft haben, damit sie ihre Geschäfte nicht weiterführen.

Das geschieht nicht?

Doch, das geschieht. Sobald im Haftbefehl Bandenkriminalität vermerkt ist, schauen schon alle ganz genau hin: auf sein Verhalten, seine Außenkontakte oder wie er seine Freistunden verbringt. Aber ich denke, da wird auch noch einiges passieren müssen, da hinkt der Staat im Moment ein wenig hinterher.

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