Abo

Retter vom RheinSo geht es Ali Kurts Familie ein Jahr nach dem Unglück

Lesezeit 4 Minuten
Oktay Ilgaz will die Erinnerung an seinen verstorbenen Onkel wach halten.

Oktay Ilgaz will die Erinnerung an seinen verstorbenen Onkel wach halten.

Köln – Am schwierigsten ist es abends, vor dem Einschlafen. Ihr Vater hat der kleinen Bensu meistens noch eine Geschichte erzählt. Oder etwas vorgesungen. Aber seit einem Jahr muss die Siebenjährige ohne dieses liebgewonnene Ritual ins Bett gehen. Ihr Vater, Ali Kurt, ist nicht mehr da. „Bensu hat das inzwischen realisiert“, erzählt ihr Cousin Oktay Ilgaz (31). „Aber vor allem abends weint sie viel.“

Ali Kurt starb am 13. März 2014 in Mülheim. Er hatte versucht, zwei Mädchen zu helfen, die in den Rhein gefallen waren. Die ältere (11) der beiden Schwestern konnte er retten. Auch Claudette (6) drückte Ali Kurt noch ans Ufer, aber sie starb kurz darauf im Krankenhaus. Der 47-Jährige ging unter und ertrank. Seine Leiche wurde 13 Tage später bei Xanten aus dem Rhein geborgen. Ende des Monats soll Ali Kurt posthum die Rettungsmedaille des Landes NRW verliehen werden.

Familie steht eng zusammen

Seine Familie lebt seit einem Jahr im permanenten Ausnahmezustand. Ali Kurts Ehefrau bekommt zwar eine Witwenrente, muss aber daneben trotzdem wieder in Vollzeit arbeiten, um sich und ihre beiden Kinder zu versorgen. Sie habe große Sorge, krank zu werden, berichtet Oktay Ilgaz. „Wenn sie nur zwei Tage mit Grippe im Bett liegt, kann sie nicht für ihre Kinder da sein.“ Also hat Ilgaz kurzerhand seinen Job in München gekündigt und ist mit seiner Frau nach Köln gezogen, um seine Tante zu unterstützen. Eine neue Arbeitsstelle hat er noch nicht. „Wir stehen eng zusammen in unserer Familie“, sagt er.

Ali Kurts Kinder Bensu und Cemre (12) werden bis heute von einer Psychologin betreut. Regelmäßig besucht sie die Geschwister. Sie reden viel, spielen oder gehen zusammen spazieren. „Ali hat immer viel mit seinen Kindern unternommen“, erzählt Oktay Ilgaz. Mit Cemre hat er Fußball gespielt, aber nach dem Tod seines Vaters hat der Zwölfjährige die Lust am Fußball verloren. Seine Noten in der Schule wurden schlechter, inzwischen habe er sich aber wieder gefangen. Cemre geht jetzt boxen, seine Schwester tanzt Ballett. „Das ist eine gute Ablenkung für beide“, sagt Ilgaz.

An jenem Donnerstagnachmittag voriges Jahr waren Ali Kurt und seine Kinder zu Hause. Ihre Wohnung liegt direkt am Rheinufer. Durchs Fenster sahen sie, wie die beiden Mädchen eine Böschung hinunter zum Fluss gingen. Die Ältere hatte sich am Finger verletzt und wollte die Wunde ausspülen. Ihre jüngere Schwester verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Zu seinen eigenen Kindern sagte Ali Kurt in diesem Moment im Spaß: „Na, denen werde ich jetzt mal die Ohren langziehen“, schildert Oktay Ilgaz. Dann spurtete der 47-Jährige aus dem Haus, runter zum Ufer.

Zum Glück, sagt Ilgaz, sahen Bensu und Cemre gerade nicht hin, als ihr Vater seine Schuhe auszog, in den Rhein sprang und abgetrieben wurde. „Aber Cemre musste später die Schuhe identifizieren.“

Auf den Beerdigungen hatten sich die Familien von Claudette und Ali Kurt gegenseitig besucht; die beiden Gräber auf dem Friedhof in Stammheim liegen keine 20 Meter auseinander. Inzwischen ist der Kontakt abgerissen. Einen Streit gab es aber nicht, betont Oktay Ilgaz. „Es gibt auch keinerlei Schuldzuweisungen.“ Man hat sich einfach auseinander gelebt.

Zu Ehren von Ali Kurt startet am Sonntag um 12 Uhr ein Benefizlauf über 3,6 Kilometer entlang des Rheinufers. Start ist Am Stammheimer Schlosspark 20, Ziel ist die Mülheimer Brücke. Das Startgeld von fünf Euro kommt dem Kinder- und Jugendhospizdienst Köln zugute. Wer nicht laufen will, kann auch gehen, auch Eltern mit Kinderwagen seien willkommen, sagt Ali Kurts Neffe Oktay Ilgaz. Auf der Strecke sollen unter anderem lebensrettende Maßnahmen demonstriert werden. Schirmherr ist NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD). (ts)

Bis heute hat die Stadt Köln weder Warnschilder entlang des Ufers aufgestellt, noch Rettungsringe, wie die Familie Kurt vorgeschlagen hatte. Oktay Ilgaz ist zu höflich, um das zu kritisieren, aber man spürt, wie sehr es den 31-Jährigen bekümmert. Auch eine offizielle Gedenkstätte für Menschen, die ihr Leben im Rhein gelassen haben, gibt es bis heute nicht. Ilgaz sagt: „Ich weiß, dass das alles Kosten verursacht. Aber es ist so wichtig, die Menschen vor den Gefahren am Rhein zu warnen.“

Bis heute wohnt seine Tante mit Cemre und Bensu in der Wohnung in Mülheim. Jeder Zentimeter erinnert die drei an Ali. Durch das Wohnzimmerfenster sehen sie die Unglücksstelle am Rheinufer. Aber dennoch, umziehen möchte die Familie nicht. Es würde die Sache nicht besser machen, sagt Oktay Ilgaz. „Meine Tante will die Kinder jetzt nicht auch noch aus ihrer gewohnten Umgebung heraus reißen.“

KStA abonnieren