lit.kid.Cologne-Leiterin über Schulen„Kinder aus Familien, bei denen keiner Deutsch spricht, sind aufgeschmissen“

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Angela Furtkamp spricht in ein Mikrofon, vor sich einige Stehtische. Hinter ihr steht ein Banner mit der Aufschrift: Internationales Literaturfest. lit.kid.COLOGNE.

Angela Furtkamp, Programmleiterin der Lit.Kid.Cologne bei der Pressekonferenz zur 24. Lit.Cologne

Kinder können immer schlechter lesen. Angela Furtkamp von der lit.kid.Cologne meint: Lesekompetenz ist Lebenskompetenz. Ein Interview.

Angela Furtkamp, als Programmleiterin der lit.kid.Cologne haben Sie sich alarmiert über Erhebungen zur Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen gezeigt. Wo stehen wir denn gerade?

Angela Furtkamp: Das Griffigste ist ja immer die Pisa-Studie, die zu Tage gefördert hat, wie schlecht Jugendliche lesen können. Aber auch Erhebungen wie die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung haben ergeben, dass ein Viertel der Viertklässler mangelhaft liest. Ich finde das alarmierend, weil Lesekompetenz Lebenskompetenz ist. Es geht nicht darum, dass die dann keine lustigen Bücher lesen. Wenn man nicht lesen kann, kann man sein Leben nicht selbstbestimmt führen. Dann ist man nicht fähig, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Inwieweit hilft uns dabei das Lesen?

Auch wenn das so eine Plattitüde ist: Lesen erweitert den Horizont. Selbst wenn ich einfache Romane oder Kinderbücher lese, habe ich immer einen Gewinn an Erfahrungen, an Emotionen, an Wissen. Ich sehe die Dinge anders, nachdem ich ein Buch gelesen habe. Das ist wichtig, damit ich Dinge erkennen und für mich einordnen kann. Bücher eröffnen mir so viele Möglichkeiten, Dinge zu erleben.

Was sind denn die Gründe dafür, dass die Lesekompetenz so stark abgenommen hat?

Ich glaube, ein großer Grund ist, dass Kinder keine Lobby haben. Es wird zu wenig Geld, Idee und Vision aufgebracht, um Kindern Bildung zu vermitteln. Wenn man sich anguckt, wie unsere Schulen aussehen - zu wenig Schulplätze, viel zu wenige Lehrer, und wie unser Schulsystem aufgebaut ist - dann sieht man schon, dass da etwas im Argen liegt. Das ist kein Lehrerbashing, im Gegenteil. Ich finde, das ist ein großartiger Beruf. Aber die Lehrer werden alleingelassen. Da sitzen 30 Kinder, denen soll man lesen, schreiben, rechnen beibringen, auch noch Fahrrad fahren und schwimmen. Ich kenne viele Lehrerinnen, die morgens Obst und Gemüse schneiden für die Pause. Es müssen Förderpläne geschrieben werden und so weiter. Und jetzt soll man noch die Lesekompetenz steigern, indem man mehrmals in der Woche 30 Minuten vorliest. Und das alles ist dann auch noch inklusiv. Das funktioniert nicht, jedenfalls nicht ohne mehr Personal.

Angela Furtkamp von der lit.kid.Cologne war auch mal Lehrerin

Sie haben in einem Spiegel-Artikel von ihren eigenen Erfahrungen als Grundschullehrerin geschrieben. Wie haben Sie das erlebt?

Das war nach der Geburt meiner ersten Tochter. Ich dachte, jetzt lasse ich das mit dem Fernsehen und den unsteten Zeiten und mache mal was Vernünftiges. Ich habe einen Seiteneinstieg gemacht und dachte, dass ich da ein bisschen Deutsch unterrichte und was ich noch so kann. Dann war ich gleich Klassenlehrerin einer vierten Klasse, mit einem autistischen Kind, mindestens 75 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund, die teilweise kaum Deutsch sprachen.

Das alles hat eine Quereinsteigerin sicher überfordert.

Ich habe das ein paar Monate bewältigt, bin aber an meine Grenzen gekommen. Mathearbeiten schreiben lassen, korrigieren, Unterricht führen - ich hatte nicht die Kompetenzen, um das zu tun. Und ich habe das als unfair den Kindern gegenüber empfunden, dass sie mich da vorgesetzt bekommen haben. Bei aller Motivation, die ich hatte, dachte ich: Hier müssen ja zwei Fachlehrer und ein Sozialarbeiter rein. Das hat mich damals echt schockiert.

Ihr Artikel ist von 2007, liest sich aber wie eine Schilderung der Gegenwart.

Das hat sich nicht geändert. Das ist fast 20 Jahre her und ich bin damals wegen Lehrermangel eingestellt worden, kompetenzfrei sozusagen. Die Kinder von damals sind jetzt schon junge Erwachsene. Die sollen jetzt schon möglichst arbeiten, Steuern zahlen und demokratisch wählen. Da verstehe ich nicht, wieso dieser Weitblick dafür nicht da ist.

Die Iglu-Studie spricht auch davon, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland deutlich schlechter aufgefangen werden als in anderen Ländern. Woran könnte das liegen?

Bei uns müssen die Eltern zu viel machen. Eine meiner Töchter hat gerade Abi gemacht, eine ist im sechsten Schuljahr. Das sind schlaue Kinder, aber das funktioniert nicht, ohne dass wir uns zuhause zusammen hinsetzen. Davon müssten wir eigentlich wegkommen. Kinder aus Familien, bei denen zuhause keiner Deutsch spricht oder keiner Zeit hat, sind aufgeschmissen. Unser Schulsystem funktioniert nicht, ohne dass nach der Schule zuhause gearbeitet wird. Das macht es dann für die Eltern oder Familien, die das nicht leisten können, schwer. Das machen andere Länder besser, zum Beispiel über bessere Ganztagskonzepte.

Die Rolle der Kultur nach den Pisa-Ergebnissen zu Lesekompetenz

Welche Rolle spielt denn der Kulturbetrieb bei dieser Frage?

Kulturelle Bildung muss in Deutschland flächendeckend und systematisch angeboten werden. Dazu sind wir in vielversprechenden Gesprächen mit dem Kulturministerium NRW. Vielleicht kann man zum Beispiel Ganztagsangebote mit den Kulturangeboten renommierter Einrichtungen vor Ort verknüpfen. Da geht es dann vor allem darum, wie wir die Freizeit der Kinder gestalten. Wir müssen versuchen, sie in Büchereien zu kriegen. Es muss Spaß machen, da hinzugehen. Ich sehe, was für tolle Arbeit die Theater machen, die Bürgerzentren. Es gibt ganz viele Angebote. Es gibt viele kleinteilige, gute Ansätze für Jugendliche, aber auch da muss man größer denken. Wir müssen Kultur und Literatur zugänglicher machen, uns als Anbieter vernetzen, den schulischen Ganztag mit den Kulturinstitutionen und Jugendeinrichtungen vor Ort zusammenbringen. Wege finden, damit Leute da hingehen können, die das von Zuhause nicht mitkriegen.

Gelingt Ihnen das bei der lit.kid.cologne?

Das Familienprogramm, das wir anbieten, ist im Vergleich nicht teuer, das kostet weniger als Kino. Aber da kommen Familien hin, die sowieso an Kultur und Literatur teilnehmen. Deswegen ist uns das KlasseBuch-Programm so wichtig. Das ist für Schulklassen und kostet 3 Euro pro Kind, was natürlich nicht kostendeckend ist. Deswegen sind wir auf Sponsoren und Förderer angewiesen und finanzieren das teilweise quer aus dem Erwachsenenprogramm. Wir wollen das aber so niederschwellig anbieten, damit das alle Schulen leisten können.

Merken Sie also, dass die lit.kid.cologne da einen Unterschied macht?

Wir können nur einen Teil dazu beitragen, etwas zu ändern. Aber ich glaube, dass das schon hilft. Wir haben im KlasseBuch-Programm 65 Veranstaltungen, da kommen bis zu 15 Klassen mit bis zu 300 Kindern. Da merken wir, dass dieses Leseerlebnis etwas mit ihnen macht. Dann haben wir Projektreihen, in denen Jugendliche ihre eigenen Autorenlesungen vorbereiten, die im Festival auf die Bühne gebracht werden. Die kriegen einen richtigen Autor, die müssen sich selbst die Moderationsfragen überlegen, ein Bühnenbild, müssen sich Lesestellen aussuchen. Sie kriegen Workshops dafür. Da sieht man, wie sie über sich hinauswachsen, wenn man ihnen die Verantwortung gibt. Das ist unser Spielraum, um sie fürs Lesen und für neue Gedanken zu öffnen. Dieses Konzept würden wir gern in die Fläche tragen und mit einem größeren Angebot einfach viel mehr Kinder und Jugendliche erreichen.

Was muss sich unterm Strich ändern, damit wieder ein positiver Trend einsetzt?

Wenn wir die Kinder und Jugendlichen nicht wertschätzen, wenn wir die Schulen nicht so gestalten, dass sie sich da wohlfühlen, wenn wir ihnen nicht die Angebote machen, die sie brauchen, dann fehlt vielleicht auch die Wertschätzung für uns als Gesellschaft und das, was wir haben. Ich glaube, es ist wichtig, fleißig und ehrgeizig zu sein und Disziplin zu haben. Ich will sie nicht betüddeln. Wir müssen sie auch fordern. Aber damit sie irgendwann Verantwortung übernehmen können, müssen wir sie auch stärken.

Zu Person und Veranstaltung

Angela Furtkamp ist Programmleiterin der lit.kid.Cologne. Sie hat Germanistik, Journalistik und Psychologie in Bamberg studiert und arbeitete als freie Autorin und als Redakteurin und Moderatorin beim KiKA. 2016 wurde sie Programmleiterin beim Kinderprogramm der lit.ruhr, 2020 übernahm sie die Leitung der lit.kid.Cologne.

Die lit.kid.Cologne findet vom 5. Bis zum 17. März statt. Das komplette Programm gibt es hier.

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