Calixto Bieito in Kölns PhilharmonieBernd Alois Zimmermann fesselnd inszeniert

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Leigh Melrose und Alexandra Ionis im „Roi Ubu“      

Köln – Dirigent François-Xavier Roth will dem Orchester gerade den Einsatz geben, da springt aus den hinteren Reihen jemand hervor und schreit „What then?“. Ja, was dann? Während das Gürzenich-Orchester mit Bernd Alois Zimmermanns früher „Sinfonie in einem Satz“ beginnt, geht Schauspieler Leigh Melrose auf die Vorderbühne zu einem verglasten Gestell, um sich darin wie in einem Sarg zur ewigen Ruhe zu betten. Nachdem die halbszenische Aufführung von Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ wegen Corona nicht stattfinden konnte, versah Regisseur Calixto Bieito nun vier Orchesterwerke des 1918 geborenen Kölner Komponisten mit Begleitszenen.

Während sich die gegenüber der Urfassung mit Orgel moderatere Zweitfassung der Sinfonie von 1953 zu katastrophisch stampfenden Marschgesten und verzerrten Klängen gestopfter Hörner steigert, tritt Schauspielerin Alexandra Ionis auf. Mit übertriebenem Grinsen blickt sie trotzig ins Publikum und zieht wie der triumphierende Gevatter Tod den Sarg als Beute hinter sich her.

Im Sinfoniekonzert wirken die Aktionen befremdlich, enthüllen aber zugleich durchaus passend eben jene Schreckensfratze des Krieges, die Zimmermann in seinem von 1947 an entstandenen Werk mit aller Brutalität schilderte. Und die das Gürzenich-Orchester furios spielte.

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„Stille und Umkehr“ schrieb Zimmermann wenige Monate vor seinem Freitod 1970. Dazu legt sich die Frau unter den Sarg des Mannes. Von wenigen beiläufigen Aktionen abgesehen, kann man sich ganz auf den eindringlichen Zentralton D konzentrieren, der durch alle Instrumente wandert und immer wieder neu umspielt wird.

Zu Zimmermanns einziger elektronischer Komposition „Tratto“ – hier nur als Ausschnitt wiedergegeben – küsste die Frau den Toten ins Leben zurück und verlassen fast sämtliche Streicher als munter plaudernde Partygäste die Bühne, um Platz für die „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ zu machen. Neben Bläsern und Schlagzeugern verbleiben einzig vier Kontrabässe, die mit fistelnden Sopranstimmchen die fehlenden Geigen ersetzen müssen. Großartig!

Eine so groteske wie brillante Montage

Zimmermanns Suite ist eine ebenso groteske wie brillante Montage aus Zitaten kreuz und quer durch die Musikgeschichte, von Renaissance-Tänzen über Bach, Beethoven, Wagner, Mussorgski, Debussy bis zu Zeitgenossen des Jahres 1966. Das Schauspielerpaar tanzt dazu obszön, balgt sich, entblößt die Beine und seift sich mit Rasierschaum ein.

Zum finalen „Marsch der Gehirnzermantschung“ strampeln beide wie wild auf aufgebockten Rennrädern wie im Wettkampf. Ebenso auf der Stelle tritt alles Schlagzeuggedonner und Klaviergehämmer. Der spanische Regisseur stiftet zwar beredte Beziehungen zwischen Szene und Musik. Aber obwohl er „keine Konkurrenz zur Musik schaffen“ wollte, verschiebt er dennoch immer wieder die Aufmerksamkeit vom Hören zum Sehen.

Zum Schluss wird das Publikum durch die unerbittlich anschwellende Klangflutwelle von „Photoptosis“ förmlich überrollt. Das langgezogene Riesen-Crescendo sich überlagernder Läufe, Repetitionen und Cluster ist ein ebenso verzweifelter wie hoffnungsvoller Schrei nach einem Durchbruch zu ganz Anderem, Neuem, Jenseitigem.

Das Licht am Ende des Tunnels

Mit Erreichen der stärksten Strahlkraft springt die Energie wie von Geisterhand auf ein Dutzend Neonröhren über, welche die Akteure auf das sargartige Gestell gelegt haben. Zur höchsten Klangintensität entsteht so ein Sinnbild für die Hoffnung auf Auferstehung beziehungsweise auf das Licht am Ende des Tunnels – was immer Tunnel und Licht sein mögen.

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