So war der „Polizeiruf“„Nur Gespenster“ ist zutiefst verstörend – aber spricht wichtiges Thema an

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Die beiden Kommissarinnen stehen in der Küche der verdächtigen Mutter, um diese zu befragen.

Polizeiruf 110: Die Kommissarinnen Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) sehen sich bei ihren Ermittlungen mit den Abgründen einer tief zerrütteten Familie konfrontiert.

Der „Polizeiruf“ aus Rostock nimmt sich eines sensiblen Themas an: den Spuren, die sexueller Missbrauch bei Betroffenen hinterlässt.

Der Fall im „Polizeiruf“: Ist die verschwundene Tochter zurück?

Schönheitschirurg Kai Wülker wurde brutal ermordet. Die DNA-Spuren am Tatort führen zu der seit über 15 Jahren vermissten Jessica Sonntag, die bereits als tot erklärt wurde. Die Kommissarinnen Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) nehmen im neuen Rostocker Polizeiruf „Nur Gespenster“ die Ermittlungen in ihrem zweiten gemeinsamen Fall auf. Sie müssen in der Vergangenheit einer Familie wühlen, bei der so gar nichts zu stimmen scheint. 

Warum etwa haben die Eltern zuerst nichts von der Magersucht und den Schwindelanfällen Jessicas erzählt? Vieles deutet darauf hin, dass Jessica vor ihrem Verschwinden Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Es scheint, als sei sie nach Rostock zurückgekehrt, um sich bei ihrem alten Peiniger zu rächen. Kann es wirklich sein, dass die Eltern damals gar nichts bemerkt haben? Bei genauerem Hinsehen macht sich auch der Vater der Vermissten, Robert Sonntag (Holger Daemgen), verdächtig.

Ein Besuch bei Michelle Carstensen (Senita Huskić), bis zu ihrem Verschwinden eine enge Freundin von Jessica, bestätigt den schlimmen Verdacht. Sie vertraut König an, was der kleine Bruder von Jessica, Henrik Sonntag (Adrian Grünewald) ihr Jahre später erzählt hatte. Als kleines Kind hatte er beobachtet, wie Jessica bäuchlings auf einem Tisch lag und mit einem Lederband geknebelt war. Als er seiner Mutter Evelyn Sonntag (Judith Engel) davon erzählen wollte, tat diese seine Beobachtung als Fiebertraum ab: „Sie meinte, das war nur ein blöder Traum. Er hat nur Gespenster gesehen“, erzählt Michelle wütend.

Die Auflösung im „Polizeiruf“: Das dunkle Geheimnis der Sonntags wird offenbart

Kaum haben die Ermittlerinnen den Vater unter Verdacht, wird auch schon seine Leiche gefunden. Er wurde beim Versuch zu flüchten auf seinem Boot erdrosselt. König und Böwe sorgen sich um das Leben der Mutter, die als Nächstes auf Jessicas Racheliste stehen könnte. Wir sehen, wie Evelyn einen Anruf von Jessica erhält, sie wolle sie auf dem Ferienhof von früher treffen. Doch dort wartet nicht die Tochter, sondern ihr Sohn Henrik auf sie.

Jessicas Bruder hatte seine Schwester lange Jahre nach ihrem Verschwinden noch einmal gesehen, sie erzählte ihm alles. Kurz darauf nahm sie sich das Leben – und rief damit beim Bruder, der sie nicht hatte beschützen können, Rachepläne hervor. Nur knapp konnte Evelyn Sonntag gerettet werden. Doch am Ende gibt es in dieser Familie keine Gewinner. 

„Sie haben Ihren Kindern das Leben gestohlen, ist Ihnen das klar? Sie haben ihren Kindern all die Jahre nicht geholfen, obwohl sie genau wussten, was passiert ist“, schreit König die Mutter in der letzten Vernehmung an. Fassungslos starren die beiden Kommissarinnen die hagere Frau an, die mit leerem Blick da sitzt und weiterhin behauptet, es sei nichts passiert. Bis auch sie die Fassung verliert und zurückschreit: „Jessica hätte sich einfach mal nicht so anstellen müssen. Manche Männer sind eben so. Ich habe das doch als Kind auch überlebt.“

Fazit zum „Polizeiruf“: „Nur Gespenster“ zwingt Zuschauende hinzusehen

Judith Engel spielt die Rolle der Mutter großartig. Sie lässt sie fragil wirken, verletzlich, verzweifelt und doch kalt. Am Anfang tut sie einem leid, die Mutter, die um den Verlust ihrer Tochter trauert. Doch je mehr wir erfahren, desto klarer wird, dass sie sich selbst zur Täterin gemacht hat. Das ist die große Schuld der Mutter. Sie hat alles gewusst, doch deckt das Verbrechen ihres Mannes bis zuletzt. Evelyn Sonntag ist eine Meisterin des Verdrängens. Weil sie die Wahrheit nicht erträgt, erschafft sie sich ihre eigene.

In ihrer Welt kehrt Jessica jeden Moment zu ihr zurück. In einer Szene scheint sie ihre Tochter vor dem Haus zu sehen. Barfuß rennt sie ihr auf der Straße hinterher. Die Kamera kreist um sie, das Bild ist verschwommen. Man hört Stimmen und Geflüster. Ist es Jessicas Hilferuf, den sie nicht hören wollte?

Die häusliche Idylle, der blühende Garten, das helle Wohnzimmer stehen in einem heftigen Kontrast zu den Abscheulichkeiten, die sich innerhalb dieser Mauern abgespielt haben müssen. Dass die Mutter bei der Telefonseelsorge arbeitet, scheint fast zynisch vor dem Hintergrund, dass sie für ihre eigenen Kinder nie da gewesen ist. Mit starken Bildern und viel Fingerspitzengefühl nehmen sich Astrid Ströher (Buch) und Andreas Herzog (Regie) einem sensiblen Thema an. 

Einzig die Story um das Wiedertreffen Königs mit ihrem Vater wirkt hier etwas gewollt. Eine Spielzeugfigur aus ihrer Kindheit wirft die Kommissarin aus der Bahn. Sie träumt von ihrer Kindheit mit den Eltern. Ihr Vater, den sie seit der Flucht aus der DDR nicht mehr gesehen hatte, ist ihr auf der Spur und möchte sie wieder sehen.

Hier wird deutlich, wie fatal es ist, wenn niemand Verantwortung übernimmt
Anneke Kim Sarnau

Dieser „Polizeiruf“ ist mitunter zutiefst verstörend. Er erzählt von den Spuren, die Missbrauch hinterlässt, von den verheerenden Folgen der Gewalt und von Menschen, die lernen mussten, mit dem, was ihnen angetan wurde, zu überleben. „Hier wird deutlich, wie fatal es ist, wenn niemand Verantwortung übernimmt, und wie sich das auf Generationen auswirkt“, sagte Anneke Kim Sarnau im Interview. Die Zuschauer werden gezwungen, das zu tun, was die Mutter nicht schaffte – hinzusehen. Das ist hart und tut weh, doch es ist mindestens ebenso wichtig.

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