Stimmen aus dem Totenreich

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Als sein Bruder starb, erbte der englische Maler Francis Barraud dessen Stimme. Der Tote hatte sie der Ewigkeit eingeschrieben, im Wachs einer Phonographenwalze. Letzte Worte der Sterbenden aufzuzeichnen, dies hatte Thomas Alva Edison als eine mögliche Nutzanwendung für den von ihm erfundenen Phonographen angegeben, wie der Medientheoretiker Friedrich Kittler berichtet. Barraud erbte auch den Terrier seines Bruders, Nipper gerufen. Spielte der Maler die Walze mit der Stimme seines Bruders ab, tappte der getreue Nipper zum Trichter des Gerätes und lauschte der Stimme seines Herrn. „His Master’s Voice“ nannte Barraud das Gemälde, in dem er diesen quasi-metaphysischen Vorgang festhielt.

Das Bild bot Barraud verschiedenen Phonographen-Produzenten an, erfolglos. Schließlich versprach ihm William Barry Owen, Gründer der „Gramophone Company“, das Gemälde zu erwerben, wenn der Maler es dahingehend verändere, dass darauf eines seiner Grammophone zu sehen sei, die statt einer Walze Schallplatten als Aufzeichnungsmedium nutzten.

Das geschah 1898/1899, und ist hier nacherzählt worden, um zu zeigen, dass die Schallplatte (oder Walze) Botschaften aus dem Totenreich verbreitete, noch bevor sie ihrem gängigen Zweck als Musikkonserve zugeführt wurde.

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Dieser Tage ist mit„Thanks for the Dance“ das erste posthume Album des 2016 gestorbenen Singer-Songwriters Leonard Cohen erschienen. Sein Sohn Adam Cohen hat es mit Hilfe befreundeter Musiker und prominenter Fans des Sängers in einer Garage in der Nähe des alten Hauses seines Vaters fertiggestellt. Die Stimme des Toten stammt von Bändern, die von den Studio-Sessions zu „You Want It Darker“, seiner finalen Veröffentlichung zu Lebzeiten, übrig geblieben waren. Leonard Cohen wusste, dass ihm keine Zeit mehr bleiben würde, diese letzten Gedanken, Gedichte und Lieder in Musik umzusetzen. Er sprach mit seinem Sohn über mögliche Instrumentierungen und die Stimmungen, die diese heraufbeschwören sollten.

Dem nachgelassenen Produkt merkt man diesen Entstehungsprozess durchaus an, jedoch nicht zu seinem Nachteil. Es oszilliert auf faszinierende Weise zwischen den beiden Seiten der angeblich nur in einer Richtung zu überschreitenden Grenze zwischen Leben und Tod. Ist ebenso Trauerarbeit der Überlebenden wie Nachricht des Toten.

Cohens Stimme hatte mit fortgeschrittenem Alter sowieso an Gravitas gewonnen, war zur Grabesstimme geworden. Jedenfalls in dem Sinn, dass sie klang, als dränge sie durch mehrere Schichten Kieselgestein an unsere Ohren: Our Master’s Voice.

Stimmen von jenseits des Grabes ziehen sich durch die gesamte Geschichte der aufgezeichneten Musik, oft spielten dabei eher finanzielle als emotionale Gründe die entscheidende Rolle. So rauften sich die überlebenden Doors sieben Jahre nach dem frühen Tod Jim Morrisons für ein letztes Album namens „An American Prayer“ zusammen, auf dem sie nachgelassene Aufnahmen ihres Sängers musikalisch begleiten. Es handelt sich um Rezitationen seiner Gedichte, mit denen sich Morrison eigentlich vom Image des Rockstars hatte emanzipieren wollen. Noch pietätloser ging indes Eminem vor, der für „Loyal to the Game“, eines der zahlreichen postumen Alben des acht Jahre zuvor ermordeten Rap-Stars Tupac Shakur, dessen Stimme in Tonhöhe und Geschwindigkeit manipulierte, auf dass sie besser zu den von ihm produzierten Beats passe.

Freilich gibt es auch Fälle, in denen der verstorbene Sänger seine Stimme ganz im Sinne Edisons als letzte Worte an die Nachwelt hinterließ. So etwa im Fall des aidskranken Freddy Mercury, der seiner rasant fortschreitenden Krankheit zum Trotz im Studio weiterarbeitete, damit ein letztes Queen-Album mit ihm als Sänger erscheinen könne. Seine Bandkollegen tauften es, nach einem alten Mercury-Song, „Made in Heaven“.

2008 gelang es Forschern des Berkeley Lab an der University of California, dem Jenseits einen besonderen Gruß zu entlocken: Am 9. April des Jahres 1860 hatte der französische Drucker und Buchhändler Éduard-Léon Scott de Martinville ein von ihm erfundenes Aufnahmegerät ausprobiert, den Phonautographen. Der hielt Schallwellen mittels einer Membran, einer Nadel und einer rußgeschwärzten Oberfläche — erst Glasplatten, später ein Zylinder wie bei Edison — in Schraffuren fest.

Diese Aufzeichnungen ließen sich damals nicht in Schallwellen zurückverwandeln. Also ruhte das Phonautogramm 148 Jahre lang in einer Art Tiefschlaf, bevor es mit Hilfe neu entwickelter Methoden in Berkeley digitalisiert werden konnte: In richtiger Geschwindigkeit abgespielt hört man nun 20 verrauschte Sekunden lang einen Mann, aller Wahrscheinlichkeit nach Scott, die Volksweise „Au clair de la lune“ singen. Es ist die erste Gesangsaufnahme der Geschichte. Mit ihr hatte, frei nach Friedrich Kittler, das Totenreich die Bücher verlassen, in denen es so lange hauste.

POSTHUME GESÄNGE

Leonard Cohens posthumes Album „Thanks for the Dance“ ist bei Sony Music erschienen.

Andere Beispiele für nachbearbeitete Aufnahmen sind Michael Jacksons posthume Single „This Is It“ oder die letzten Alben der früh verstorbenen Singer-Songwriter Jeff Buckley und Elliot Smith.

John Lennon hatte seinen Song „Free as a Bird“ 1977 aufgenommen, er kam nie über das Demo-Stadium hinaus. Bis seine drei Ex-Beatles-Kollegen 1995 bei Yoko Ono anfragten, ob es nicht unbekanntes Material gäbe, das man für das „Anthology“-Projekt verwenden könne. Und so erschien, 25 Jahre nach der bislang letzten Beatles-Single, dieses Zusammenspiel Lebender und Toter. (cbo)

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