Vor 50 Jahren legten 90 Prozent der Isländerinnen ihre Insel lahm. Angesichts ihres Erfolgsmodells „Frauenferien“ stellt sich aktuell die Frage: Wer schenkt Friedrich Merz ein Flugticket nach Island?
Erfolgsmodell FrauenferienWas wir vom größten weiblichen Protest der Weltgeschichte lernen können


Die isländische Regierungschefin Kristrún Mjöll Frostadóttir wird sicher mitdemonstrieren für Frauenrechte.
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Stellen Sie sich vor, 90 Prozent aller Frauen in Deutschland würden für einen Tag das Arbeiten einstellen – unbezahlte Care-Arbeit inklusive: Nichts ginge mehr. Gar nichts! So geschehen in Island: Vor genau 50 Jahren, am 24. Oktober 1975, legten 90 Prozent der Isländerinnen ihre Insel lahm. Es ist bis heute der beeindruckendste und größte Frauenprotest der Welt – auch ohne Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde. An jenem Tag schlossen sich die Putz- und Küchenkräfte auf Fischereischiffen in ihre Kabinen ein, während die wütende Männer-Crew von draußen an die Türen hämmerte, wie die sehenswerte Dokumentation „Island – ein Tag ohne Frauen“ (derzeit in der Arte-Mediathek) zeigt.
Kindergärten, Fischfabriken, Geschäfte und Restaurants: Alles machte dicht. Der einzige Fernsehsender lieferte Bilder hilflos dreinblickender Männer, die ihre Kinder mit ins Büro nehmen mussten. Der Protest der Frauen richtete sich gegen das traditionelle Bild, sie seien vor allem als Hausfrau, Mutter und Ehefrau etwas wert, gegen Sexismus am Arbeitsplatz und unfaire Löhne. Wenig bis gar kein Unterschied zu dem also, was zur gleichen Zeit auch Frauen in Deutschland beklagten. Das Wort „Streik“ vermieden die isländischen Frauen bewusst, auch wenn alle Welt ihre Aktion so nannte. Denn damals galt es, mit konspirativen Briefen, Telefonaten und Faxen wochen- und monatelang vorab auch die konservativen Inselbewohnerinnen bis ins allerletzte Dorf hinter dem allerletzten Vulkan von dem gemeinschaftlichen Vorhaben zu überzeugen. Ein echter Kraftakt in Zeiten, in denen es längst noch keine digitalen sozialen Netzwerke gab.
Da „Streik“ manche abgeschreckt hätte, nannten sie ihr Aufbegehren „kvennafri“, Frauenferien. Charmanter im Tonfall, aber im Ergebnis genauso knallig. 1975 demonstrierte in Island Vigdis Finnbogadóttir mit, die fünf Jahre später die erste demokratisch gewählte Präsidentin der Welt war (!). Die geschiedene, alleinerziehende Mutter eines Adoptivkinds stand 16 Jahre lang an der Staatsspitze. Danach musste man isländischen Kindern erst einmal erklären, dass es auch männliche Präsidenten geben kann.
Als die „Frauenferien“ unter anderem im Jahr 2023 wiederholt wurden und 100.000 Frauen die Arbeit niederlegten, war ganz selbstverständlich auch Regierungspräsidentin Katrín Jakobsdóttir mit von der Partie. „Wir hätten in Island niemals so viel für Geschlechtergerechtigkeit erreicht, wenn es nicht so viel Solidarität unter Frauen gäbe. Deswegen fand es in Island auch jeder normal, dass die Premierministerin mitstreikt. Nur aus dem Ausland haben mich viele Fragen dazu erreicht“, hat Jakobsdottir mir in einem Interview erzählt.
Fragen dazu kamen sicher auch aus Deutschland. Ob Angela Merkel wohl jemals in den Kanzlerinnen-Streik getreten wäre? Kaum vorstellbar. An diesem Freitag, wenn die Isländerinnen anlässlich des 50. Jahrestags erneut „Ferien“ ausrufen, demonstriert sicher ihre Walküren-Regierung mit. So wird die aktuelle Regierung Islands genannt – angeführt von der Sozialdemokratin Kristrún Frostadóttir, mit 36 Jahren zur jüngsten Regierungschefin in der Geschichte des Landes gewählt. In sieben der elf Ministerien haben Frauen das Sagen. Und dann wären da noch: die Präsidentin, die Polizeichefin, die Bischöfin und die Bürgermeisterin der Hauptstadt Reykjavik.
Kurzum: Es gibt eigentlich kein Amt in Island, das heute nicht in Frauenhand ist. Laut Gender Gap Report ist Island in Sachen Gleichstellung seit mehr als einem Jahrzehnt das weltweit führende Land. Da sage bitte niemand, dass Proteste sich nicht lohnen. Und in Deutschland? Demonstrieren diese Woche Frauen, um Bundeskanzler Friedrich Merz zu ermahnen, die „Töchter“ dieser Republik nicht einfach ungebeten vor einen mit populistischer Rhetorik gezimmerten Karren zu spannen. Seufz. Wer schenkt Merz ein Flugticket für Ferien in Island?
Sarah Brasack ist stellvertretende Chefredakteurin. In der Kolumne „Die Optimistin“ schreibt sie im Wechsel mit anderen Autorinnen über Dinge, die Anlass zur Freude geben und das, was in der Welt gut läuft


