Trauer um 9-Euro-Ticket„Auf Landkarte gucken, in Zug steigen, ankommen, fertig“

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Das Neun-Euro-Ticket führt zu volleren Zügen und Bahnsteigen.

Köln – Freiburg, Trier, Minden, Osnabrück. Ute Soppe schwelgt in Erinnerungen. Das 9-Euro-Ticket hat der Rentnerin eine Freiheit geschenkt, die sie lange nicht kannte: In den Zug setzen und einfach durch Deutschland gondeln, Freunde treffen. Und das für einen sehr überschaubaren Preis. „Ich bin ein Architektur-Fan und habe es geliebt, mir all die Altstädte in der Umgebung anzusehen“, sagt Soppe. „Ich musste mir keine Gedanken ums Ticket machen. Auf der Landkarte gucken, was ich noch nicht kenne, in den Zug steigen, ankommen, fertig. Das war herrlich“, sagt die 77-Jährige.

Anfang September ist nun allerdings Schluss mit der gerade erst neu gewonnenen Freiheit. Zum regulären Preis kann sich die Rentnerin das Erkunden von Deutschland nicht mehr leisten: „In Zukunft werde ich wieder mehr Zeit in Köln verbringen.“

Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets

Das 9-Euro-Ticket, das als Teil des staatlichen Entlastungspakets die Mehrbelastung durch gestiegene Spritpreise ausgleichen sollte, hat Deutschland im Sturm erobert. Schon im ersten Angebotsmonat verkaufte der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr 1,8 Millionen der günstigen Monatskarten. Gelobt wurde nicht nur der günstige Preis, sondern auch das unkomplizierte System: Ticket kaufen und in ganz Deutschland Nahverkehr nutzen. Ohne aufwendige Recherche, welche Tarifzone denn nun wo gelte.

Eine Studie des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt (DLR) hat ergeben, dass viele Menschen durch das Ticketangebot vom Auto auf den öffentlichen Nahverkehr umgestiegen sind. „Das 9-Euro-Ticket hat einen ähnlich starken Effekt auf das Mobilitätsverhalten gehabt wie der Ausbruch der Corona-Pandemie, nur in die umgekehrte Richtung“, sagt Projektleiterin Claudia Nobis.

9-Euro-Ticket ermöglichte Spontantrips

Für so viel günstige Unkompliziertheit haben Pendler und Freizeitfahrer dann auch ein paar Nachteile in Kauf genommen. Überfüllte Züge zum Beispiel. „Ohne das Neun-Euro-Ticket wären keine Spontan-Trips drin gewesen“, sagt Audrey aus Wesseling, die mit ihren beiden Kindern am Bahnhof in Köln Ehrenfeld steht und auf den Zug nach Hause wartet.

„Wir unternehmen gerne Ausflüge in Großstädte in der Umgebung“, sagt die 46-Jährige.  Köln und Düsseldorf sind ihnen zwar vertraut, spontane Trips dorthin machen den dreien aber immer Spaß. Und: „Es ist eine gute Möglichkeit statt des Autos den Zug zu nutzen“. Zudem sind plötzlich auch Reiseziele außerhalb der Region zum Schnäppchenpreis möglich:  „Mein großer Sohn Michel ist zum Beispiel tatsächlich diesen Sommer mit dem Neun-Euro-Ticket nach Westerland auf Sylt gereist. Das hat zwar länger gedauert, hat ihm aber total Spaß gemacht“, erzählt die 46-Jährige.

Bereicherung der Freizeit

Auf dem Gleis gegenüber stehen Silvana und Marco. Mit  vielen anderen Passanten warten sie  auf ihre Bahnen, die teilweise komplett überfüllt und mit Verspätung einfahren. Das Neun-Euro-Ticket hat ihre Freizeit bereichert, sagen sie.

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Marco und Silvana aus Aachen haben spontan viele umliegende Städte besucht. Auch Köln.

Am Wochenende unternehme sie gern Ausflüge in Städte der Umgebung, sagt die Aachenerin Silvana. Gemeinsam mit ihrem Freund Marco geht sie  gerne auf Entdeckungstour. Heute auf dem Programm: eine geführte Tour durch Ehrenfeld. Gerne würden sie an einem anderen Wochenende ein weiteres Viertel Kölns noch besser kennenlernen.  Als Möglichkeit, unter der Woche zur Arbeit zu kommen, nutzten die beiden das Ticket nicht. Viel zu volle Züge, viel zu unzuverlässig, sagt Marco.

Iko Tönjes, Sprecher des Verkehrsclubs (VCD) NRW, sieht das ähnlich: „Niedrige Preise allein reichen nicht aus, um einen Umstiegseffekt zu bewirken.“ Das Auto biete vor allem auf dem Land – trotz hoher  Kosten – weiterhin viele Vorteile: Flexibilität, Zuverlässigkeit und Privatsphäre.  Gerade für Pendler  auf dem Land hat da auch das Neun-Euro-Ticket kein Umsteigen bewirkt. Anders sieht es bei Städtern und Freizeitfahrern aus. „Wenn man für neun Euro pro Monat den kompletten Regionalverkehr nutzen kann, ermöglichen sich wortwörtlich ganz neue Wege“, sagt Silvana. Auf Geburtstagsfeiern kann sie länger bleiben und anders als bei der Anreise mit dem Auto sogar ein Glas Wein trinken.

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Eve ist Studentin und konnte mit dem Ticket ihre Freunde häufiger besuchen.

Zu den Freizeit-Fahrern gehört auch Eve. Als Studentin bekommt sie die Differenz zu ihrem Semesterticket, mit dem sie nur in NRW unterwegs sein durfte, jetzt für drei Monate gutgeschrieben. Das Neun-Euro-Ticket kostete sie damit weniger bei größerer Reichweite. Kein Wunder, dass Eve schwärmt: „Es ist günstig und bequem.“ Wenn die Zeit es zulässt, fährt sie gerne mit dem Zug und besucht ihre Freunde.

Das  hat sie auch schon vor der Einführung des 9 Euro Tickets getan. Das Ticket macht es ihr aber einfacher: Außerhalb von NRW muss sie sich nicht mit Tarifzonen auseinandersetzen. Der günstige Preis führt außerdem dazu, dass sie sich Besuche öfter leisten kann. „Seit dem 9 Euro Ticket habe ich einige Freunde öfter gesehen. Das freut einen natürlich schon.“ Vor ein paar Wochen hat sie eine Freundin in Berlin besucht – gemeinsam sind sie auf ein Festival gegangen: Wilde Möhre. Den Weg von Münster nach Berlin ist sie zwar mit dem ICE gefahren, in Berlin selbst war sie aber froh, sich einfach in die U-Bahn setzten zu können, ohne sich Gedanken über ein Ticket machen zu müssen. Heute ist sie  wieder zu Besuch bei einer Freundin: Diesmal in Köln.

Großer Erfolg einerseits, schwierige Finanzierbarkeit andererseits: Dass das 9-Euro-Ticket einen Nachfolger braucht, darin sind sich viele Experten einig. Die SPD in NRW schlug am Donnerstag ein 30-Euro-Ticket ab Januar vor. Finanziert werden solle ein solches Angebot durch Geld von Bund und Ländern – und auch die Wirtschaft ist als Geldgeber bei den Sozialdemokraten im Gespräch. Durch Finanzierung von Infrastruktur oder Jobtickets.

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