Zwangsprostitution ist in Deutschland strafbar. Und doch werden auch hierzulande Frauen gegen ihren Willen zur Sexarbeit gezwungen. Die Polizei geht mit Kontrollen und Einsätzen dagegen vor - doch nicht immer reichen die Beweise aus. Wie tragisch dies enden kann, zeigt der Fall von „Nadja“.
Verstörende Schilderungen in „Freierforen“ entsetzen ZDF-Reporterin„Schwer zu ertragen“

Sarah Tacke gibt Einblicke in ein System der Ausbeutung und Gewalt - hinter den Kulissen des Rotlichtmilieus. (Bild: ZDF/ Ralf Gemmecke)
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ZDF-Journalistin Sarah Tacke sitzt in einer Koblenzer Wohnung drei jungen Frauen gegenüber. Sie stammen aus Rumänien, sprechen alle Deutsch, ihre Gesichter sind unkenntlich gemacht. Wie alt sie sind, will die Journalistin wissen. 23, 26 und 19 antworten die Frauen.
Tacke wirkt betroffen: „Sie wirken auf mich sehr jung.“ Und nicht nur das: Tacke ist sich beinahe sicher, dass die drei Frauen Opfer von Zwangsprostitution sind. Für die ZDF-Doku „Gefangen im Rotlicht - Verkaufte Frauen“ begleitet sie die Beamten aus Koblenz bei dem Kontrolleinsatz - und wird erfahren, wie fatal Fälle von Zwangsprostitution für Frauen enden können.
Die Polizei ist zuvor durch einen Undercover-Einsatz auf die Wohnung gestoßen. Ein Beamter gab sich als Freier aus, vereinbarte einen Termin mit einer der Frauen. Als er in der Wohnung eintrifft, folgen ihm weitere Beamte. Die Frauen werden kontrolliert, die Wohnung durchsucht.
Nur 500 Meter von Polizeistelle entfernt: Für „Nadja“ kam jede Hilfe zu spät
Die Rumäninnen beteuern, freiwillig ihre Dienste anzubieten. Bei den Männernamen, die sie auf den Hals tätowiert tragen, handele es sich lediglich um ihre Brüder, so heißt es. Beweise, dass die Frauen zu der Arbeit gezwungen werden, können die Beamten an diesem Abend nicht feststellen. Wie wichtig diese Einsätze dennoch sind, zeigt der Fall von „Nadja“ im November 2023.
In der Nacht auf den 22. November 2023 erreicht die Polizeileitstelle in Koblenz ein Notruf. Eine 31-jährige Frau ist bewusstlos und benötigt dringend medizinische Hilfe. Der Ort des Geschehens: eine Wohnung, keine 500 Meter von der Polizeileitstelle entfernt. Die Frau wird schwerverletzt in ein Krankenhaus gebracht, doch dort können die Ärzte nur noch ihren Tod feststellen. Für die 31-jährige Bulgarin, die „Nadja“ genannt wird, kam jede Hilfe zu spät.
Um einen tragischen Unfall handelte es sich jedoch nicht. Vielmehr wurde die junge Frau in der winzigen Einzimmerwohnung zur Prostitution gezwungen und zu Tode gequält. Bei der Obduktion wurden Verbrühungen, Verbrennungen, Hautschnitte, Hautabschürfungen und „ganzes Gewebe, was gefehlt hat“, festgestellt.
„In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gesehen“

Rund 32.000 Prostituierte sind in Deutschland offiziell registriert. Doch die Dunkelziffer ist gewaltig. (Bild: ZDF/ Ralf Gemmecke)
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Sarah Lehmann von der Mordkommission Koblenz erinnert sich: „Die Haare waren abrasiert und es war ein Narbengewebe am Kopf, was einfach unvorstellbar war.“ Bei der Frau wurden insgesamt 53 Knochenbrüche festgestellt, zudem sei sie deutlich unterernährt gewesen und habe zum Zeitpunkt des Notrufs nur noch eine Körpertemperatur von 26 Grad gehabt.
Ein Fall, der sogar die Experten an ihre Grenzen brachte. Lehmann berichtet, der Obduzent habe ihr gegenüber damals geäußert: „Das ist meine 10.000. Leiche, und in meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gesehen.“
In welchen Lebensverhältnissen Nadja wohnen musste, zeigen Bilder der völlig verwahrlosten Einzimmerwohnung. Dort lebte die 31-Jährige mit einem bulgarischen Ehepaar und einer weiteren Frau als Sexarbeiterin. Lehmann erklärt, die Wohnung sei insgesamt in einem „desolaten Zustand“ gewesen. „Das waren Eindrücke, die man so nicht vergisst.“
Junge Bulgarien zwangsprostituiert und zu Tode gequält
Dass es sich bei dem Ehepaar nicht etwa nur um Nadjas Mitbewohner, sondern auch um ihre Freier und Peiniger handelte, sollten eindeutige Hinweise auf gefundenen Handys zeigen. Dort fanden die Beamten Fotos des Opfers in entwürdigenden Posen und Nachrichten, die eindeutig auf Zwangsprostitution hinwiesen.
Zudem tauchten Fotos auf, die Nadja schlafend unter dem Waschbecken liegend zeigen, oder wie sie „nackt und gefesselt auf der Toilette sitzt“. Lehmann weiß: „Sie hätte sich nicht einmal gerade ausstrecken können“ und habe immer irgendwo auf dem Boden gekauert. In dem Badezimmer, das nicht einmal drei Quadratmeter misst, habe sie auch Freier empfangen.
Lehmann stellt klar: „Täter, Freier - egal, wer sie in diesem Zustand gesehen hat, kann eigentlich nicht drüber hinwegschauen.“ Und weiter: „Wenn man sich vorstellt, dass dieser Sterbeprozess vielleicht zwei, drei Tage schon angedauert hat, hat sie eventuell mit einem Freier verkehrt, obwohl sie schon am Sterben war.“ Bei einer Körpertemperatur von nur noch 26 Grad „ist man tot“. „Es war sehr grausam und brutal“, sagt die Kommissarin.
Sarah Tacke sichtet verstörenden Einträge in Internet-Foren
Dass Frauen in dieser Branche oftmals wie „Ware“ behandelt werden, zeigen auch einschlägige Foren im Internet. Betty Kneisler ist Vorsitzende des Vereins Schattentöchter e.V. und zeigt Sarah Tacke einige der verstörenden Einträge im Netz. Die Journalistin ist sichtlich geschockt: „Mir war es ehrlich gesagt gar nicht klar, dass es die überhaupt gibt.“ Die Seite wirke wie ein „Bewertungsportal für das Produkt Prostituierte“, kommentiert Tacke. „Das ist ein Abgrund, der groß ist“.
Neben sexuellen Vorlieben und Fetischen stoßen die beiden Frauen auch auf illegale Kategorien, wie „Vergewaltigung“ oder Foren, in denen Freier über Treffen mit minderjährigen Mädchen berichten. Auch von Frauen, die sich während der Treffen wehrten oder unter Schmerzen litten, wird geschrieben.
Die ZDF-Journalistin ist entsetzt: „Für mich ist es schwer zu ertragen, wie erniedrigend die Freier über Frauen in ihren Internetforen schreiben.“ Doch Betty Kneisler weiß, dass das der traurige Alltag vieler dieser Frauen ist. So habe fast jede Betroffene aus der Branche, mit der sie persönlich gesprochen hat, Gewalt erfahren.
Peiniger von Nadja müssen lebenslang in Haft
Gegen das Ehepaar, das Nadja gefangen hielt, wurde bereits 2016 ermittelt, damals noch in Würzburg. Ein Freier hatte sich anonym gemeinsam mit einer Prostituierten bei der Polizei gemeldet, die aussagte, in einer Wohnung von dem Paar gefangen gehalten zu werden. Vor Ort trafen die Beamten auch auf Nadja, die jedoch beteuerte, freiwillig der Arbeit nachzugehen. Damals habe sie bis auf eine Kopfverletzung unversehrt gewirkt.
Ihre Mitbewohnerin wurde polizeilich vernommen, setzte sich dann jedoch ins Ausland ab. Und so endeten die Ermittlungen. Sieben Jahren später war Nadja tot. Für sie kam die Hilfe der Beamten zu spät. Ihre Täter konnten dagegen endlich belangt werden. Nach Nadjas Tod wurde das Paar wegen Mordes und schwerer Zwangsprostitution zu lebenslanger Haft verurteilt. (tsch)
