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Tsunami 2004„Ich werde die Schreie  nie vergessen“

5 min

Bangkok – Über Weihnachten war ich in die indonesische Hauptstadt Jakarta geflogen und genoss ein ruhiges Frühstück in meinem Hotel, als mein Mobiltelefon klingelte. Aus dem Lautsprecher schrillte eine aufgeregte Stimme. „Wir sind von einer Flutwelle überschwemmt worden“, rief eine Bekannte aus Bangkok, „Sie war auf eine Insel in der thailändischen Provinz Krabi gereist. Ich wusste von nichts und konnte nur einen Rat geben: „Bleibe in höherem Gelände, bis ich etwas weiß.“

Indonesiens Provinz Aceh war zu dem Zeitpunkt längst von einem Erdbeben der Stärke 9,1 und einem bis zu 30 Meter hohen Tsunami zerstört worden. Aber die Welt wusste noch nichts von der Katastrophe, weil alle Kommunikationsverbindungen abgebrochen war. Erst allmählich tauchten im Fernsehen die ersten Berichte von Flutwellen an Thailands Andaman-Küste auf, schließlich gelang es mir, genug Details zusammenzutragen, um einen ersten Überblick zu erhalten. „Es hat ein riesiges Erdbeben und einen anschließenden Tsunami gegeben. Es scheint aber keine Flutwellen mehr zu geben. Bleibe vorsichtshalber trotzdem noch auf einer gewissen Höhe“, erklärte ich meiner Bekannten, „ich melde mich, wenn ich mehr weiß.“ Sie hatte Zuflucht in einem kleinen Hotel auf einem Hügel gefunden und kümmerte sich längst mit anderen Freiwilligen um Verletzte. Nur einen einzigen Satz äußerte sie später über jene Stunden der Ungewissheit und des Überlebenskampfs. „Die Schreie der Leute, die zusehen mussten, wie Freunde oder Verwandte weggeschwemmt wurden, werde ich nie vergessen.“

Ich eilte zu Jakartas Flughafen und nahm die nächste Maschine nach Bangkok. Nach und nach tröpfelten weitere Nachrichten ein. Nicht nur die thailändische Ferieninsel Phuket war betroffen. Die komplette Küste nach Norden inklusive Khao Lak war überschwemmt worden. Aus Sri Lanka kamen Meldungen von Zerstörungen an der Ostküste und aus der Region um die Stadt Galle. Indiens Küste vor dem Bundesstaat Tamil Nadu meldete Überschwemmungen. Es handelte sich stets um Meldungshäppchen.

Die ersten Zahlen von Toten kletterten auf 5000. Bei meiner Zwischenlandung in Singapur war bereits die Rede von 10 000. In Europa lagen die Menschen wegen sechsstündigem Zeitunterschieds noch in den Betten. Aber in Asien schälte sich langsam das Bild einer Katastrophe heraus, die nahezu alle Küsten entlang des Golf von Bengalen betroffen hatte. Von Aceh war nicht die Rede. Wie es genau an der Küste Thailands aussah, blieb ebenso ungewiss.

Anrufe auf der Ferieninsel Phi Phi, wo ich Kontakt zu Tauchunternehmen hatte, blieben unbeantwortet. In Khao Lak konnte ich telefonisch kein einziges Hotel erreichen. Das Wasser hatte nicht nur Häuser und Hotels vom Strand gefegt, das Meer zerstörte auch in vielen Gebieten die Funkmasten. Straßen waren unpassierbar. Schließlich erreichte ich einen Deutschen in Phuket. „Wir sind nicht so schlimm dran“, erzählte der Mann, „aber aus den Nachbargegenden kommen Tausende von Verletzten.“ Thailands Westküste galt im Jahr 2004 schon lange all den Menschen als tropische Zuflucht, die dem ungemütlichen Winter in ihrer Heimat zu entkommen suchten. Gerade die Ferientage nutzen Familien mit Kindern aus Skandinavien und Zentraleuropa zur Reise an den Strand. Aus Großbritannien strömten Touristen ebenso an Thailands Andaman-Küste wie westliche Ausländer, die in Indien lebten.

Nach meiner Ankunft in Bangkok am Sonntagnachmittag sprachen die Nachrichtenagenturen bereits von 20 000 Toten im Tsunamigebiet. Die Zahl lag weiter unter der endgültigen Opferzahl von einer Viertelmillionen Menschen, weil aus Indonesiens Aceh immer noch jede Nachricht fehlte. Auch aus Indiens verheerend betroffener Andaman-Insel gab es noch keine Nachrichten.

Klar war nur, dass nur in Thailand Tausende von westlichen Touristen betroffen waren. Mein Telefon klingelte ohne Unterlass. Bekannte, entfernte Bekannte, wildfremde Leute, die irgendwie meine Koordinaten erhalten hatten, riefen in der ebenso verzweifelten wie vagen Hoffnung an, von mir Auskunft über den Verbleib von Verwandten, Freunden oder Kollegen erhalten zu können. Dabei konnte ich nicht einmal mehr meine Bekannte auf der Insel erreichen. Ich rief Ralf Krewer an, einen Nachbarn, der im Bangkok-Hospital arbeitete. Die Kette unterhielt schon 2004 ein Krankenhaus in Phuket. „Wir überlegen, die schlimmsten Verletzten nach Bangkok zu bringen“, erklärte Krewer. „In Phuket platzen wir aus allen Nähten. Aber genaue Angaben haben wir auch noch nicht.“

Die erste Reportage, die ich 2004 kurz nach dem Tsunami über meinen ersten Besuch in dem völlig zerstörten Ort Khao Lak schrieb, gibt bis heute einen Einblick in den damaligen Horror. „Ein Mann hofft immer noch, seine drei Kinder und die Ehefrau finden zu können“, schrieb ich damals nach meinem Besuch des Ferienorts am Tag nach dem Tsunami, „zwei Männer harren noch in diesem Hotel aus. Verzweifelt, verwirrt, vor Trauer unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen und einsam. 700 Gäste – darunter Schweizer, Österreicher und rund 400 Deutsche – wohnten in der Luxusanlage, als am Sonntagmorgen die Flutwelle einschlug. Zuerst zerstörte das Wasser die teuersten Bungalows in Strandnähe. Dann donnerte die Welle in den Innenhof des in Hufeisenform gebauten Hotels. Das Wasser zerschmetterte die Zimmer im Parterre, überflutete die hochgelegene Lobby und riss Autos vom Parkplatz ins Landesinnere. Nur die billigeren Zimmer in der ersten und zweiten Etage blieben mehr oder weniger unversehrt. Auf dem Meer trieben in der sanften Dünung des Meeres Hunderte von Leichen. Auf den Hotelanlagen lagen Tote vor Zimmern, manche standen bis zur Hüfte begraben mit aufrechtem Oberkörper neben dem früheren Swimming-Pool und starrten mit toten Augen in die Weite."

Für die meisten Angehörigen der Tsunami-Opfer endete die Ungewissheit Monate später dank der mühevollen Kleinarbeit von Polizeiexperten, die pedantisch Tausende von Puzzle-Stücken zusammenfügten, um geborgene Tote zu identifizieren.

In Khao Lak erinnern ein paar kleine Museen an die schrecklichsten Tage des Ferienorts. Ansonsten gibt es wenige sichtbare Erinnerungen an die Katastrophe. Man muss schon das Geschäft eines Apotheker in einem Küstendorf besuchen, das völlig zerstört wurde, um ein Gefühl für die tiefen Narben zu erhalten. In jedem Winkel seines Hauses steht ein Altar für eine andere Gottheit. „Seit dem Tsunami“, sagt der Mann, „stelle ich mich mit allen gut: Egal ob Allah, Jesus oder Buddha. Sicher ist sicher.“