AfghanistanTaliban erobern binnen weniger Tage acht Provinzhauptstädte

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Kabul: Binnenvertriebene aus den nördlichen Provinzen, die aufgrund von Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften aus ihrer Heimat geflohen sind, warten in einem öffentlichen Park auf kostenlose Lebensmittel. 

Kabul – Die radikalislamischen Taliban haben bei ihrem Vormarsch in Afghanistan innerhalb weniger Tage die achte Provinzhauptstadt erobert. Am Dienstag fiel die 200 Kilometer nördlich von Kabul gelegene Stadt Pul-i-Kumri in der Provinz Baghlan in die Hände der Islamisten, wie ein Abgeordneter und ein Armeeoffizier mitteilten. Kurz zuvor war den Taliban die Einnahme der Stadt Farah in der gleichnamigen Provinz im Westen des Landes gelungen.

Der Abgeordnete Mamoor Ahmadsai aus Baghlan sagte der Nachrichtenagentur AFP, die Taliban hätten ihre Flagge auf dem zentralen Platz in der Provinzhauptstadt Pul-i-Kumri sowie am Gouverneurssitz gehisst. Die Streitkräfte der afghanischen Armee hätten sich aus der Stadt zurückgezogen. Ähnliches berichtete Schala Abubar aus dem Provinzrat von Farah. Die Taliban bestätigten die Einnahme beider Provinzhauptstädte im Online-Dienst Twitter.

Heftige Kämpfe in der Umgebung von Masar-i-Scharif

Bereits in den vergangenen Tagen hatten die Islamisten sechs der 34 afghanischen Provinzhauptstädte erobert, darunter auch den langjährigen Bundeswehrstandort Kundus. Heftig gekämpft wird derzeit auch in der Umgebung von Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr zuletzt ihr größtes Feldlager hatte. Die Regierungstruppen hätten dort aber weiter die Oberhand, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Kabul am Dienstag.

Masar-i-Scharif ist das wirtschaftliche Zentrum der Region im Norden Afghanistans, der als Bollwerk gegen die Taliban gilt. Eine Einnahme Masar-i-Scharifs durch die Extremisten wäre deshalb ein harter Schlag für die Regierung in Kabul. Gefechte gibt es auch in den südlichen Provinzen Kandahar und Helmand - traditionell Hochburgen der Extremisten.

Biden bereut Abzug von Truppen nicht

Angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Taliban weite Teile Afghanistans unter ihre Kontrolle bringen, wächst international die Kritik am Abzug der Nato-Truppen aus dem Land. US-Präsident Joe Biden sagte am Dienstag dennoch, er bereue die Entscheidung für den Abzug nicht. Die Afghanen müssten „für ihre Nation kämpfen“, sagte Biden vor Journalisten. Die politischen Führer Afghanistans rief er zur Einigkeit auf. Im Auftrag Bidens soll derzeit der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad bei Gesprächen mit den Taliban in Katar für eine Waffenruhe werben.

Der Friedensprozess für Afghanistan war im September in Katars Hauptstadt Doha angestoßen worden. Die Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban sind jedoch ins Stocken geraten. Von den Kämpfen in Afghanistan sind hunderttausende Zivilisten in dem Land betroffen. Die Vereinten Nationen warnten am Dienstag eindringlich vor einer Verschärfung der humanitären Krise in dem Land. „Wenn nicht alle Parteien an den Verhandlungstisch zurückkehren und eine friedliche Lösung finden, wird sich die für so viele Afghanen bereits grauenhafte Situation noch stark verschlimmern“, erklärte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in Genf.

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Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden in Afghanistan allein in diesem Jahr mehr als 359.000 Menschen durch die Kämpfe vertrieben. Die EU-Kommission warnte am Dienstag, dass eine halbe Million Afghanen in den Nachbarländern Zuflucht suchen könnte. Binnenflüchtlinge berichteten vom brutalen Umgang der Islamisten mit der Bevölkerung. „Die Taliban prügeln und plündern“, erzählte Rahima, die nach der Flucht aus der Provinz Scheberghan gemeinsam mit hunderten weiteren Flüchtlingen in einem Park von Kabul kampierte. „Wenn es in einer Familie ein junges Mädchen oder eine Witwe gibt, nehmen sie sie mit Gewalt.“

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet.

Trotz des Vormarsches der Taliban drängen sechs EU-Länder, darunter Deutschland, die EU zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan. In einem gemeinsamen Brief forderten Deutschland, Österreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Griechenland, die „zwangsweise Rückführung bestimmter Afghanen weiterhin zu garantieren“, wie der belgische Minister für Asyl und Migration, Sammy Mahdi, am Dienstag auf Twitter schrieb. (afp)

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