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„Die Stadt ist wie geteilt“Worüber Magdeburg ein Jahr nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag streitet

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Ein Kran hebt den Weihnachtsbaum für den Weihnachtsmarkt in Magdeburg an seinen Platz auf dem Alten Markt vor das Rathaus der Stadt.  Der Weihnachtsmarkt öffnet am 20. November 2025.

Ein Kran hebt den Weihnachtsbaum für den Weihnachtsmarkt in Magdeburg an seinen Platz auf dem Alten Markt vor das Rathaus der Stadt. Der Weihnachtsmarkt öffnet am 20. November 2025. 

An diesem Montag beginnt die juristische Aufarbeitung des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt von Magdeburg. Ein Jahr danach streitet die Stadt über den Umgang mit dem Attentat. Ein Stimmungsbild.

Pittiplatsch sitzt noch nicht richtig, so darf es natürlich nicht bleiben, sagt Dirk Eckermann. Also wird er den Schaukasten noch einmal aufschrauben, wird sie aufrichten, genau wie Schnatterinchen, die andere Puppe, wird die unsichtbaren Angelfäden an den Ärmchen festknoten und mit den kleinen Motoren verbinden. Und wenn die Kinder dann auf der kleinen Eisenbahn an ihnen vorbeifahren, dann wird es für sie aussehen, als tränken die beiden wirklich Kakao und bissen in ihren Keks, als seien sie wirklich lebendig.

„Ist noch ein bisschen zu tun“, sagt Dirk Eckermann entschuldigend, wie er in seiner blauen Latzhose vor dem Kasten mit dem Schaufenster steht, mit den kräftigen, vom Aufbau dunklen Händen, unschlüssig, als würde er am liebsten gleich alles richten und verbessern.

Elf Monate später

Aber es ist ja auch noch bisschen Zeit bis zum 20. November. Dem Tag, an dem der Weihnachtsmarkt öffnet. Exakt elf Monate, nachdem ein 50-jähriger Mann mit einem BMW X3 nur ein paar Schritte von Eckermanns Bimmelbahn mit Vollgas zwischen den Buden und durch die Gassen fuhr und so sechs Menschen tötete und mehr als 300 verletzte. Und zehn Tage, nachdem am Landgericht Magdeburg der Prozess gegen diesen Täter beginnt.

Oder sollte man es lassen, wenigstens in diesem Jahr, einmal aussetzen mit dem Weihnachtsmarkt? Oder ihn verlegen, an einen anderen Ort?

Ein Jahr nach dem Anschlag stehen die Buden für den Weihnachtsmarkt in Magdeburg wieder bereit.

Ein Jahr nach dem Anschlag stehen die Buden für den Weihnachtsmarkt in Magdeburg wieder bereit.

„Nein“, sagt Dirk Eckermann entschieden. „Das wäre das falsche Zeichen.“ Aber das sehen in Magdeburg nicht alle so.

Dirk Eckermann, 54 Jahre alt, betreibt mit seiner Frau auf dem Weihnachtsmarkt zwei Stände: die Champignonpfanne und die „Bimmelbahn“, wie er sie nennt, ein Karussell für kleine Kinder. Sein Herz aber hängt vor allem an der Bahn. Sein Vater hat sie gebaut, 1969 war er damit zum ersten Mal auf dem Markt, Eckermann zeigt ein altes Schwarz-Weiß-Foto, als Kind war er so oft wie möglich dabei. „Ich bin auf dem Weihnachtsmarkt aufgewachsen“, sagt er, „das hier ist ein Teil meines Lebens.“

Zwei Wochen ohne Schlaf

Auch am 20. Dezember vergangenen Jahres sitzt er im kleinen Häuschen an der Bimmelbahn. Kurz nach sieben bricht Unruhe aus. Noch bevor er die Fahrt stoppen kann, zerren Eltern schon ihre Kinder von den kleinen Waggons. Eckermann eilt hinüber zu seiner Frau, zum Champignon-Stand, vorbei an blutenden, schreienden oder ohnmächtigen Menschen. Neben dem Stand liegt eine Frau, sie kann ihre Beine nicht bewegen. Eckermann und seine Frau bleiben bei ihr, decken sie zu, sprechen ihr Mut zu, fast zwei Stunden lang, bis Sanitäter sie ins Krankenhaus bringen.

Was aus ihr geworden ist? Dirk Eckermann zuckt mit den Schultern. „Wir haben es nie erfahren.“

Zwei Wochen lang kann er danach nicht schlafen. Die Bilder, die Geräusche verfolgen ihn. Der 54-Jährige, sonst mehr Tüftler als Grübler, entschließt sich, mit einer Seelsorgerin zu sprechen. Es dauert Monate, bis er zur Ruhe kommt.

„Unsere Tradition, unsere Stadt“

Und jetzt also der erste Weihnachtsmarkt danach. Der Stadtrat hat es so beschlossen, dass er wieder hier stattfinden soll, auf dem Alten Markt. Manches ist jetzt anders. Die Buden stehen versetzt. Die Hartstraße, wo die sechs Menschen starben, bleibt jetzt fast frei von Ständen. Dirk Eckermann weiß, dass die Bilder dennoch wiederkommen werden.

Aber er sagt auch, dass es richtig sei, wieder hier zu sein. Ja, es ist auch sein Beruf, hier zu sein, er lebt davon. So wie die Betreiber der 140 Stände. „Das hier ist unsere Tradition, unsere Geschichte, unsere Stadt“, sagt er. „Wenn dieser Täter uns hier vertreiben würde, hätte er doch erreicht, was er wollte.“ Und das, sagt Eckermann, wolle er nicht hinnehmen.

Am Montag beginnt der Prozess gegen den Tatverdächtigen. Er soll im Dezember 2024 einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt von Magdeburg verübt haben.

Am Montag beginnt der Prozess gegen den Tatverdächtigen. Er soll im Dezember 2024 einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt von Magdeburg verübt haben.

Und so ist dieser Weihnachtsmarkt zu einem Symbol geworden. Nur dass die Magdeburger es unterschiedlich deuten. Die einen lesen Trotz aus ihm heraus, den Willen, sich seine Welt nicht kaputtmachen zu lassen. Für die anderen jedoch ist er ein Zeichen der Ignoranz gegenüber den Opfern, den Betroffenen und Hinterbliebenen dieses Anschlags.

„Die Stadt ist wie geteilt“, sagt Doreen Majchrzak, Leiterin der Magdeburger Notfallseelsorge. In die, die diesen Anschlag hinter sich lassen wollen. Und die, die es jedenfalls noch nicht können. Und nun, an diesem Montag, beginnt der Prozess gegen den Attentäter, der an jenem 20. Dezember 2024 mit seinem 200 PS starken Wagen Schlangenlinien über den Markt fuhr, um möglichst viele Menschen zu töten. Es ist ein Prozess, der viele aufwühlt in der Stadt. Weil er sie vor die Frage stellt, ob sie hingehen und diesem Mann in die Augen schauen werden. Und ob sie es können.

Ruhe nur fern der Stadt

Klar ist jedenfalls, dass es in der Stadt Hunderte Betroffene gibt. Und dass viele von ihnen die Bilder dieses Abends schwer beschäftigen. Lars Ophagen ist Pastor, an jenem Abend betreute er in der Notaufnahme der Pfeifferschen Stiftungen Verletzte und Angehörige, heute betreut er eine Selbsthilfegruppe von Betroffenen.

„Manche schlafen nur dann gut, wenn sie außerhalb von Magdeburg übernachten“, sagt er. Andere könnten kaum einen Zebrastreifen überqueren. „Weil sie nicht glauben können, dass das Auto wirklich anhält.“ Die Stadt, sagt er, „ist für sie regelrecht kaputtgegangen“.

Zu den Eigenheiten in Magdeburg gehört, dass es zwar sehr viele Betroffene dieses Anschlags gibt, aber dass diese doch zugleich kaum präsent sind. Wer spricht, besteht auf Anonymität.

Da ist die Frau, Ende 50, die an jenem Abend am Bein verletzt wurde, so schwer, dass sie Monate brauchte, bis sie wieder gehen konnte, wenigstens ein paar Schritte. Es sind die Bilder, die sie bis heute belasten, die Erinnerungen, die aufblitzen, sobald sie ein Blaulicht, einen Hubschrauber sieht.

„Als ob wir stören“

Dass sie diesen Weihnachtsmarkt nicht besuchen wird, nicht besuchen kann, ist für sie klar. „Aber allein die Vorstellung, dass vielleicht nur zwei Meter von dort, wo vor nicht mal einem Jahr Menschen ermordet wurden, wo sie in ihrem Blut lagen, dass dort jetzt Menschen entspannt Glühwein trinken: Diesen Gedanken finde ich unerträglich.“

Oder die Frau, deren Mutter zu den sechs Menschen gehört, die der Attentäter an jenem Abend tötete. Und die, neben der Trauer, auch regelrechte Wut auf das empfindet, was auf jenen Abend folgte. Das, was sie, wie andere Hinterbliebene, als Missachtung durch die Stadtspitze empfindet. „Es gibt bis heute kein ernsthaftes Interesse daran, was uns Hinterbliebenen jetzt helfen würde, was wir brauchen.“ Manchmal, sagt sie, habe sie das Gefühl, als würden sie, die Angehörigen, nur stören.

Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt 2024 liegen vor der Johanniskirche in Magdeburg.

Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt 2024 liegen vor der Johanniskirche in Magdeburg.

So stark ist dieser Eindruck offenbar, dass die Hinterbliebenen vor wenigen Wochen, als nahe dem Alten Markt die Gedenkplatten für die Opfer verlegt wurden, ausdrücklich darum baten, dass die Oberbürgermeisterin der Stadt nicht zu diesem Termin erscheint.

Es sind, soviel ist sicher, die Wunden des 20. Dezember in dieser Stadt nicht nur nicht verheilt. Es sind sogar noch einige dazugekommen.

1,5 Millionen Euro Spenden

Simone Borris sitzt an einem Nachmittag Anfang November am Besprechungstisch ihres Büros im Alten Rathaus, an der Wand ein Gemälde, das den Dom zeigt. Seit 2022 ist die 62-jährige parteilose Politikerin Oberbürgermeisterin von Magdeburg. Wenn sie erzählt, wie sie jenen Abend erlebte, dann kommt sie fast beiläufig auch auf den Tod ihres Mannes, einen Tag später, nach längerer Krankheit. Nicht um Mitleid zu erwecken, so wirkt es. Sondern um zu erklären, warum sie stundenweise an jenem Tag nicht bei den Menschen war. Sondern am Sterbebett ihres Mannes.

Es gibt, das ist ihr wichtig, vieles, was seit dem 20. Dezember gut gelaufen ist. Die große Solidarität und Hilfsbereitschaft, die die Monate seitdem prägten. Oder die mehr 1,5 Millionen Euro, die für die Opfer des Anschlags gespendet wurden. Oder eine Veranstaltung nur für Betroffene, zu der mehr als 300 kamen. „Die Resonanz war sehr positiv. Deshalb werden wir das auch wiederholen.“

Aber auch sie räumt ein, dass nicht alles gut war. „In der Kommunikation mit den Betroffenen ist einiges nicht optimal gelaufen“, sagt sie, „und das würde ich, rückblickend, auch verbessern wollen.“ Manches habe aber auch der Datenschutz verhindert, zum Beispiel habe man die Menschen nicht direkt anschreiben können. Es gebe, sagt sie, „verständlicherweise“ zwei Gruppen in der Stadt: Die, die diesen Anschlag ständig im Fokus hätten. Und die andere, bei denen das nicht so sei. „Beiden Gruppen gerecht zu werden, ist nicht immer einfach.“

Aber das es so schwierig ist, das hätte wohl auch Bastian Lomsché nicht geahnt.

Ein Stück namens „Drei Minuten“

Der 42-Jährige ist Dramaturg und Schauspieldirektor am Theater Magdeburg, das gerade erst als „Theater des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Zu seiner Vorstellung von Theater gehört, die Themen der Stadt aufzunehmen, sich nicht abzuschotten. „Und nach dem Anschlag war uns klar: Wir können dieses Thema nicht aussparen.“

Also beauftragten sie einen renommierten Autor, Kevin Rittberger, der seitdem in der Stadt unterwegs ist, mit Betroffenen, Helfern und anderen spricht. „Drei Minuten“ soll das Stück heißen, im Mai wird es Premiere haben. Es soll keine Nacherzählung des Anschlags werden, natürlich nicht, es soll auch keine „kontroverse Erzählung“ werden, versichert Lomsché, nichts Strittiges also. Gehen soll es um das, was er eine „dringliche Frage“ nennt: „Wie können wir als Stadt denn jetzt weitermachen?“

Aber seitdem geht es in Magdeburg weniger um diese Frage. Sondern um ein Stück, das es noch gar nicht gibt. Die Oberbürgermeisterin befürchtet, die Ankündigung komme „für einige zu früh“, in den Netzwerken wird gestritten. Jemand hat gedroht, die Aufführung unbedingt zu verhindern, das Theater musste die Polizei einschalten.

Vielleicht, so hofft es, Bastian Lomsché, ist manches davon ja bereits der Beginn einer öffentlichen Auseinandersetzung. Gut möglich aber, dass all dies auch erst mal seine gegenwärtige Diagnose bestätigt.

„Die Stadt“, sagt er im Foyer des Theaters, zwischen Proben zu einem neuen Stück, „ist nach meiner Wahrnehmung noch immer in einem Schockzustand, in einem Verdrängungsmodus.“