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Jean Asselborn kommt zur phil.Cologne„Den Westen, wie wir ihn kannten, gibt es nicht mehr“

Lesezeit 7 Minuten
Polens Ministerpräsident Donald Tusk, Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einem Gipfeltreffen europäischer Staats- und Regierungschef im Mai 2025 in der albanischen Hauptstadt Tirana.

Wohin geht der Weg der EU? Polens Ministerpräsident Donald Tusk, Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einem Gipfeltreffen europäischer Staats- und Regierungschef im Mai 2025 in der albanischen Hauptstadt Tirana.

Der frühere Luxemburger Außenminister Jean Asselborn kommt zur phil.Cologne nach Köln. Im Interview spricht er vorab über die Bedrohungen Europas von innen wie von außen - und über Donald Trumps „irrwitzigen Imperialismus“.

Herr Asselborn, in vielen EU-Mitgliedsstaaten – zuletzt in Polen – liegt es in Wahlen an ein, zwei Prozentpunkten, welchen Kurs das Land in Europa fährt. Wie soll die EU überleben, wenn sie dermaßen an einem seidenen Faden hängt?

Ich kann mich erinnern, wie wir gelitten haben 2015, als Jaroslaw Kaczynskis Partei PiS in Polen die Mehrheit bekam. Und wie sehr wir uns 2023 über Donald Tusks Sieg in der Parlamentswahl gefreut haben. So ist das nun mal in Demokratien. Aber es stimmt: Wir alle hätten uns Anfang der 2000er Jahre nicht vorstellen können, dass rechtspopulistische und sogar rechtsextreme Parteien in den Regierungen sitzen würden.

Gegen eine Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ in Österreich hat die EU seinerzeit Sanktionen verhängt.

Auf starkes Drängen Frankreichs unter der Führung von Jacques Chirac. Das war ein anderes Frankreich. Heute steht Marine Len Pen an der Schwelle zum Élysée-Palast. Das ist die bittere Realität. Aber die EU darf sich davon nicht beirren lassen. Sie muss stehen für die Demokratie und für den Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz und freien Medien.

Jean Asselborn im Kölner Tanzbrunnen zur lit.Cologne 2021

Jean Asselborn im Kölner Tanzbrunnen zur lit.Cologne 2021

Nur kann schon ein einzelnes Land die Standfestigkeit untergraben und erschüttern.

Das Einstimmigkeitsprinzip ist ein Konstruktionsfehler der heute geltenden EU-Verträge. Auch da gilt: Keiner hat sich vorstellen können, dass die Regierung eines EU-Mitglieds den Rechtsstaat dermaßen mit Füßen treten, wie wir es zuerst mit Viktor Orbáns Ungarn erlebt haben. Inzwischen gibt es Robert Fico in der Slowakei. Und wenn es in Abstimmungen der 27 EU-Mitglieder darauf ankommt, gibt der eine dem anderen Flankenschutz. Dagegen haben wir kaum wirkungsvolle Maßnahmen. Wir schleppen diesen Orbán jetzt schon 15 Jahre mit. Ich hoffe nicht, dass das noch einmal 15 Jahre so geht. Sonst haben wir die EU tatsächlich orbanisiert.

Gräbt sich die EU mit ihren Regularien also ihr eigenes Grab?

Wir müssen den Spaten politisch ansetzen und Europa auf ein neues Fundament stellen, indem wir sagen: Alle, die künftig in der EU mitmachen wollen, müssen sich zur Rechtsstaatlichkeit bekennen, zur Solidarität und zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur. Und ein Staat, der das nicht will, kann mit einer qualifizierten Mehrheit ausgeschlossen werden. Das muss als eigener, neuer Artikel in die EU-Verträge. Ich weiß, das wird ein steiniger Weg. Aber eine Alternative sehe ich nicht.

Ich hoffe, Deutschland sieht ganz schnell ein, dass dieses Spiel aufhören muss.
Jean Asselborn

Erleben wir gerade, von Deutschland ausgehend, eine Dobrindtisierung der EU – mit Alleingängen bei den Grenzkontrollen und der Abweisung von Asylsuchenden?

Ich hoffe, Deutschland sieht ganz schnell ein, dass dieses Spiel aufhören muss. Nun behauptet Innenminister Alexander Dobrindt: „Wir schließen die Grenze doch nicht, wir kontrollieren nur.“ Ich sage: Wie bitte? Grenzschließungen – das wäre ja noch schöner! Aber es gab zuletzt bereits Phasen, in denen die Grenze de facto dicht war. Ich kann davor nur warnen. Wenn nämlich jetzt auch die Polen, die Niederländer oder auch wir in unserem kleinen Luxemburg anfangen, jeden abzuweisen, der als Verfolgter um Asyl bittet, dann ist das das Ende der Freizügigkeit in Europa.

Sie befürchten das Ende von Schengen?

Ich hoffe, dass es nicht so kommt. Ich setze darauf, dass die Gerichte – allen voran der Europäische Gerichtshof in Luxemburg – dazu sehr klare Positionen einnehmen, die dann auch befolgt waren. Und ich hoffe, dass es in Deutschland genügend verantwortliche Politiker gibt, die wissen, was es heißt, wenn Schengen fällt. Es gibt drei große europäische Errungenschaften: den freien Binnenmarkt, den Euro – und Schengen. Wenn wir das kaputtschlagen, werden wir uns davon nicht mehr erholen.

Die pro-europäischen Parteien in Deutschland müssen aufpassen, dass sie nicht Schengen opfern, um vermeintlich etwas gegen die AfD in die Hand zu bekommen
Jean Asselborn

Aber es kann doch auch nicht sein, dass alle EU-Mitglieder Flüchtlinge durchreichen, bis sie dann an der deutschen Grenze stehen. Das ist auch eine Missachtung von Europarecht.

Ich sage seit mindestens zehn Jahren: Ohne die Solidarität aller EU-Staaten mit den Ländern an der EU-Außengrenze, insbesondere mit Griechenland und Italien, und die Bereitschaft zu einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge wird weiter durchgewinkt. Wenn man das nicht einsieht, ist man blind oder taub oder beides. In Amerika sehen wir, was eine unmenschliche Migrationspolitik ist. Wollen wir solche Verhältnisse auch in Europa? Wir brauchen legale Migration, dann hätten wir bessere Karten, um die illegale Migration zu stoppen. Und die pro-europäischen Parteien in Deutschland müssen aufpassen, dass sie nicht Schengen opfern, um vermeintlich etwas gegen die AfD in die Hand zu bekommen. Damit begehen sie einen kapitalen Fehler zulasten unserer Kinder und Enkel.

Wie wenig handlungsfähig die EU ist, sieht man derzeit in der jüngsten Eskalation der Nahost-Krise. Eine gemeinsame Position, gemeinsames Handeln gegenüber den Konfliktparteien Israel und Iran – Fehlanzeige.

Zunächst: Die EU ist keine Militärmacht. Das mag man bedauern, aber es ist so. Bei den diplomatischen Anstrengungen der EU hoffe ich, dass sich gegenüber Israel die Position durchsetzt, die sagt: Was die Regierung Netanjahu treibt, ist brandgefährlich. Man könnte die Schläge Israels gegen die iranischen Atomanlagen unter Verweis auf die UN-Charta so gerade noch akzeptieren, weil Iran ja permanent mit der Vernichtung Israels droht – was nur gelänge mit einer Atombombe. Aber Netanjahu will erklärtermaßen viel mehr: Er spricht von „Regime change“, also der Beseitigung der Mullah-Herrschaft. Wozu solche Bestrebungen von außen führen, haben wir gesehen: im Irak oder in Libyen.

Bundeskanzler Friedrich Merz hat den Israelis attestiert, sie erledigten gerade die „Drecksarbeit“ für alle, denen an einem Machtwechsel in Iran gelegen sein muss.

Wenn internationales Recht auch aus Europa heraus nicht respektiert wird, und der Bundeskanzler repräsentiert ein beachtliches Stück Europa, dann driftet die Welt in die Anarchie. Ich denke an den Irak-Krieg 2003. Damals gab es einen vehementen Widerstand seitens Frankreichs und Deutschlands gegen die US-geführte Militärinvasion – im Namen des internationalen Rechts.

Für Israel ist Sicherheit vor Iran nur diplomatisch zu erreichen.
Jean Asselborn

Sie setzen in Iran heute auf einen Umsturz von innen? In Syrien hat das zu einem Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten, Millionen Flüchtlingen und ungeheuren Zerstörungen im Land geführt.

Das ist noch ein anderes Problem. Ich weiß nicht, ob es dem iranischen Volk gelingen könnte, sich von den Mullahs zu befreien. Aber ich bin fast sicher: Die israelischen Bombardements festigen die bestehende Herrschaft. Wie immer hat Netanjahu keine Idee, was auf den Einsatz des Militärs folgen sollte, auf welchem Weg man zu Verhandlungen kommt. Netanjahu kann keinen Krieg stoppen.

Ihn kann aber offenbar auch niemand stoppen.

Es gibt, glaube ich, zwei Mächte auf der Welt, die das könnten: die USA und China. Aber es sieht nicht danach aus, dass sie es tun werden. Dabei ist doch klar: Für Israel ist Sicherheit vor Iran nur diplomatisch zu erreichen. Selbst wenn Netanjahu alle iranischen Atomanreicherungsanlagen zerstört – wer gibt ihm die Garantie, dass Teheran über die Achse mit Russland anderweitig an eine Atombombe kommt?

Netanjahu wird vorerst nicht einlenken, weder im Fall Gaza noch im Fall Iran
Jean Asselborn

Halten Sie es für richtig, dass Deutschland seine – historisch begründete – Sonderrolle im Umgang mit Israel beibehält? Frankreich und Großbritannien zum Beispiel haben zuletzt wegen der Lage in Gaza Sanktionen erwogen. Deutschland geht da nicht mit.

Ob das im konkreten Fall richtig oder falsch ist, lasse ich mal dahingestellt. Natürlich wäre es gut, wenn diese drei Länder mit einer Stimme sprächen. Aber ich verstehe auch die deutsche Zurückhaltung. Mit Blick auf Gaza kann sehr schnell der Moment kommen, dass die zuständigen Institutionen – die UN, der Internationale Gerichtshof – von israelischen Kriegsverbrechen sprechen. Netanjahu wird vorerst nicht einlenken, weder im Fall Gaza noch im Fall Iran. Zum einen, weil er dem Golfspieler Steve Witkoff, Donald Trumps Sonderbeauftragtem für die Atomgespräche mit Iran, nicht traut und fürchtet, dass Teheran ihn über den Tisch zieht. Zum anderen, weil er mit den Attacken gegen Iran von dem Bild ablenken will, das Israel in Gaza abgibt. Auf Französisch sagt man dazu: „J'attaque donc je suis.“ – Ich greife an, also bin ich. Zumal Netanjahu ganz persönlich seine Freiheit riskiert, sobald er nicht mehr Krieg führt.

Wie schaut denn jemand, der so lange Außenpolitik gemacht hat wie Sie, aus dem kleinen Luxemburg auf den Giganten USA unter Trumps Führung?

Nicht nur das kleine Luxemburg, die ganze Welt muss klar erkennen, dass Rationalität nicht mehr zählt. Die USA sind die älteste Demokratie der Welt. Ihre Verfassung entstand 1787, zwei Jahre vor dem Beginn der Französischen Revolution. Ich glaube, niemand hätte den irrwitzigen Imperialismus eines einzelnen Mannes für möglich gehalten, der sagt: Wir wollen Kanada, wir wollen Grönland, wir nehmen uns den Panama-Kanal – wie ein absolutistischer Herrscher. Den Westen mit seiner Werteordnung, wie wir ihn kannten, gibt es nicht mehr. Das tut einfach nur weh. Und wenn mir jemand das vor zwei Jahren, selbst noch vor einem Jahr so vorausgesagt hätte, hätte ich gesagt: Du bist verrückt! Aber unterdessen merken die Amerikaner auch selbst, wo das hinsteuert.

Gutes Stichwort: die Amerikaner. Vieles von dem, was Trump tut, hat er im Wahlkampf angekündigt und hat dafür die Mehrheit bekommen. Schafft die Demokratie sich am Ende selbst ab? Ein bisschen wie in Deutschland 1933, als die Feinde der Demokratie mit demokratischen Mitteln an die Macht kamen.

Das ist die Gefahr. „No Kings!“, habe ich auf Plakaten der Trump-Gegner gelesen. Das ist sehr vielsagend: Die Amerikaner haben endlich verstanden, dass sie die Demokratie verteidigen und dafür auch auf die Straße gehen müssen.


Große Verlosung zum Start der phil.Cologne

Jean Asselborn, geboren 1949, war von 2004 bis 2023 Außenminister von Luxemburg. Der Sozialdemokrat war von 2014 an zusätzlich Minister für Immigration und Asyl.

Auf dem Kölner Philosophiefestival phil.Cologne, das am Montag startet, bespricht Asselborn mit der WDR-Journalistin Isabel Schayani die Frage: „Europa - wie weiter?“, 24. Juni, 18 Uhr, in den Balloni-Hallen, Ehrenfeldgürtel 88-94, 50823 Köln. Tickets für die Veranstaltung und viel weitere gibt es auf www.philcologne.de

Wir verlosen für diese und fünf weitere Veranstaltungen jeweils 3 x 2 Tickets: „Mein Algorithmus und Ich. Markus Gabriel und Daniel Kehlmann über den Menschen im Zeitalter der KI“ (23.06.), Wir spielen Alltag – Leben in Israel seit dem 7. Oktober 2023. Mit Lizzie Doron und Nina Kunzendorf (26.06.), Brauchen wir eine Brandmauer? Rolf Mützenich und Frauke Rostalski über politische Grenzen und gesellschaftliche (27.06.), „Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario von Carlo Masala“ (28.6.) und „An Gott glauben – eine gute Idee?“ Manfred Lütz Britta Müller-Schauenburg und Bernd Stegemann über den Glauben in unserer säkularen Gegenwart (29.06.)

Teilnehmen können Sie hier