Die Pflegeversicherung ist tief in den roten Zahlen. Um kräftig steigende Beiträge zu verhindern, sind nun auch Kürzungen im Gespräch. Darum geht es.
Kürzungen könnten kommenWill die Koalition die Leistungen der Pflegeversicherung kappen?

Essen: Eine Pflegekraft unterstützt eine Seniorin beim Frühstück im DRK-Pflegezentrum Solferino. Die Koalition plant Änderungen bei der Pflegeversicherung.
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Jahrelang ging es bei der Pflegeversicherung nur um eines: Wie können die Leistungen des jüngsten Zweiges der Sozialversicherung an den tatsächlichen Bedarf der alternden Bevölkerung angepasst werden? Insbesondere in der Zeit der Großen Koalition wurde die Unterstützung daher deutlich ausgebaut.
So konnten ab 2017 nicht nur Menschen mit körperlichen Beschwerden Leistungen erhalten, sondern auch diejenigen mit demenziellen Erkrankungen. Unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurde 2022 dafür gesorgt, dass das Wachstum der Eigenanteile im Pflegeheim abgebremst wird. Beides hat jedoch den Druck auf die Beitragssätze enorm verstärkt. Das hat die Politik bisher billigend in Kauf genommen, weil dank der langen Aufschwungphase die Beiträge der übrigen Sozialversicherungen niedrig blieben. Doch mit der Rezession ist die Lage eine andere. Befürchtet wird, dass die Sozialbeiträge bald den Wert von 50 Prozent erreichen könnten, was als untragbare Belastung für Unternehmen und Beschäftigte gilt.
Kommission für Pflegereform geplant
Die schwarz-rote Koalition hat deshalb vereinbart, eine Bund-Länder-Kommission für eine Pflegereform einzusetzen, die noch in diesem Jahr Ergebnisse vorlegen soll. Die Zeit drängt: Trotz einer Beitragserhöhung zum Jahresanfang ist die Finanzlage schon wieder so angespannt, dass mehrere Pflegekassen nach Einschätzung des Kassen-Spitzenverbandes im zweiten Halbjahr Liquiditätshilfen benötigen, um überhaupt noch die Pflege ihrer Versicherten bezahlen zu können.
Um die Finanzsituation zu verbessern, ist im Koalitionsvertrag erstmals etwas enthalten, was jahrzehntelang als undenkbar galt: eine Kürzung von Leistungen. In der Öffentlichkeit ist das allerdings bisher weitergehend unbemerkt geblieben, denn die Formulierung im Vertragstext ist etwas versteckt und zudem verklausuliert. So heißt es, zum Arbeitsauftrag der Bund-Länder-Kommission gehöre die Prüfung von „Nachhaltigkeitsfaktoren (wie beispielsweise die Einführung einer Karenzzeit)“.
Idee für Pflegeversicherung ist nicht neu
Das heißt übersetzt: Die Pflegeversicherung zahlt nicht vom ersten Tag einer festgestellten Pflegebedürftigkeit, sondern erst nach einer gewissen Frist. Oder anders ausgedrückt: Die Pflegebedürftigen müssten ihre Pflege zunächst komplett aus der eigenen Tasche bezahlen, bis irgendwann die Pflegeversicherung einspringt, die ja ohnehin nur einen Teil der Kosten übernimmt.
Dass so etwas in einem Koalitionsvertrag steht – wenn auch zunächst nur als Prüfauftrag – ist neu. Die Idee an sich ist es nicht. So hatte der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg eine derartige Kappung schon vor Jahren vorgeschlagen. Heute zeigt sich der Professor, der sich schwerpunktmäßig mit der Generationengerechtigkeit beschäftigt, erfreut, dass der Vorschlag aufgegriffen wurde.
„Schnellballsystem zu Lasen künftiger Generationen“
„Die Pflegeversicherung war von Anfang an ein Schneeballsystem zu Lasten künftiger Generationen“, sagt Raffelhüschen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es sei schon bei der Einführung 1995 klar gewesen, dass immer weniger Einzahlende immer mehr Pflegebedürftige finanzieren müssen. Dennoch seien die Leistungen immer weiter ausgebaut worden. „Den jüngeren Menschen ist nicht vermittelbar, warum sie bald einen Beitragssatz von sieben oder acht Prozent zahlen sollen, während die ältere Generation die Leistungen quasi als Geschenk bekommen. Denn sie haben nur wenige oder gar keine Beiträge eingezahlt“, so der Gesundheitsökomom.
Im ersten Jahr Pflege komplett selbst zahlen
Weitere Beitragssteigerungen seien keine Alternative. Sondern: „Wir müssen an die Ausgaben ran, damit die Pflegeversicherung bezahlbar bleibt“, argumentiert er. Er schlägt konkret eine Karenzzeit von mindestens einem Jahr vor. „Das kann der überwiegende Teil der Bevölkerung aus den eigenen Ersparnissen leisten, denn wir sprechen von einer Größenordnung von maximal etwa 50.000 Euro“, so seine Einschätzung. Wer damit überfordert sei, habe nach einer Bedürftigkeitsprüfung Anspruch auf Hilfe zur Pflege, also auf Sozialhilfe.
Pflegestufe 1 abschaffen
Nach seiner Ansicht sollte die Karenzregelung allerdings nicht auf einen Schlag eingeführt werden, sondern schrittweise. Zunächst könnte sie nur für drei Monate gelten und dann sukzessive auf ein Jahr verlängert werden. „Eventuell könnte es nötig sein, die Karenzzeit auf bis zu 2 Jahre auszudehnen, um tatsächlich eine nachhaltige Finanzierung zu erreichen“, gibt er zu bedenken. Den Pflegegrad 1 bei sehr leichten Beeinträchtigungen, bei dem monatlich 131 Euro zum Beispiel für Haushaltshilfen bezahlt werden, will Raffelhüschen ganz abschaffen: „Er ist überflüssig.“
„Mit einer Karenzzeit wird die Pflegeversicherung auf ihren sozialpolitischen Kern zurückgeführt, nämlich eine Absicherung eines schwer kalkulierbaren, teuren Langzeitrisikos“, argumentiert der Ökonom. Das sehen Patientenschützer allerdings ganz anders. „Das ist keine Strukturreform, sondern eine eiskalte Leistungskürzung auf Kosten der Schwächsten“, kritisiert der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. In der Pflegeversicherung fehle Geld, weil nach wie vor Milliarden Euro nicht für Pflegebedürftige verwandt würden, sondern zum Beispiel für die Rentenbeiträge pflegender Angehöriger. „Das Geld der Versicherten wird zweckentfremdet für Ausgaben, die eigentlich von der Allgemeinheit getragen werden müssten“, beklagt er.