Unser Kolumnist Markus Ogorek von der Universität zu Köln sieht eine Verengung des Meinungskorridors, verteidigt aber Eingriffe des Staates in die Diskurse.
Kolumne OgorekMeinungsfreiheit im Stresstest

Wie steht es um die Meinungsfreiheit? Markus Ogorek geht dieser Frage in seiner Kolumne nach.
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Die Meinungsfreiheit verliere in Europa an Boden, warnte J. D. Vance im Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz – eine provokative Aussage, gewiss. Und doch dürfte der US-Vizepräsident hierzulande vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen haben. Das Gefühl, sich bei politischen Themen besser zurückzuhalten, hat deutlich zugenommen. Laut einer Allensbach-Umfrage so stark wie nie zuvor.
Einen Grund dafür sieht die Kölner Rechtsphilosophin Frauke Rostalski in der Ausweitung von Normen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts – etwa zum Schutz von Minderheiten, vulnerablen Gruppen oder der öffentlichen Ordnung. Zu denken ist etwa an den neuen Straftatbestand der „verhetzenden Beleidigung“, an Beschränkungen für Proteste vor Schwangerschaftsberatungsstellen oder das Verbot des sogenannten Deadnaming, also der Bezeichnung einer transgeschlechtlichen oder nicht-binären Person mit ihrem früheren, vor der Transition getragenen Namen. So berechtigt diese Schutzanliegen auch sind, sie verengen unstreitig den Raum der freien Rede.
Auch unterhalb der Schwelle von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten verschieben sich die Grenzen des Sagbaren.
Doch auch unterhalb der Schwelle von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten verschieben sich die Grenzen des Sagbaren. Staatlich geförderte Meldestellen, zum Beispiel gegen Queerfeindlichkeit oder Antiziganismus, registrieren in NRW auch Äußerungen, die gesetzlich nicht verboten sind, aber als diskriminierend empfunden werden. Das ist sicher gut gemeint – wirft aber Fragen auf. Wenn der Staat beginnt, auch legales Verhalten als „problematisch“ zu markieren, entsteht ein Klima des Misstrauens.
Dennoch wäre es überzogen, mit J.D. Vance das Ende der Meinungsfreiheit herbeizureden. Ja, der Meinungskorridor ist enger geworden. Und ja, bestimmte Gruppen genießen stärkeren rechtlichen Schutz. Doch all dies ist Ausdruck einer demokratischen Entwicklung. So spiegelt die stärkere Sensibilität gegenüber diskriminierenden Äußerungen den gewachsenen Anspruch wider, auch sprachlich die Würde und Gleichberechtigung aller Teile der Gesellschaft zu achten.
Das gesellschaftliche Miteinander war früher nicht unbedingt freier oder gerechter.
Dass früher angeblich offener gesprochen werden konnte, heißt zudem nicht zwangsläufig, dass das gesellschaftliche Miteinander deshalb auch freier oder gerechter war. Wer etwa in den 1950er Jahren öffentlich behauptete, Frauen gehörten nicht in Führungspositionen, musste kaum Konsequenzen fürchten – doch solche Äußerungen trugen dazu bei, dass Frauen systematisch vom gesellschaftlichen Aufstieg ausgeschlossen blieben.
Als Beleg für die Erosion der Meinungsfreiheit wird zuweilen angeführt, dass Politiker (vermeintliche) Beleidigungen häufiger anzeigten als in der Vergangenheit. Nachweislich ist das so. Richtig ist aber auch: Gewählte Amtsträger sind keine rechtlosen Zielscheiben öffentlicher Empörung. Dass sich Angela Merkel in ihrer sechzehnjährigen Kanzlerschaft gegen ehrabschneidende Äußerungen nicht zur Wehr setzte, mag man als Ausdruck großer Souveränität deuten. Ein Maßstab für den politischen Alltag lässt sich daraus aber kaum ableiten. Gerade auf kommunaler Ebene sehen sich viele Amtsträger massiven Anfeindungen ausgesetzt. Der Staat darf ihnen den dringend erforderlichen Schutz nicht vorenthalten.

Markus Ogorek ist ein deutscher Rechtswissenschaftler und seit 2020 Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln. Für den Kölner Stadt-Anzeiger ist er als Kolumnist tätig.
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Je stärker Menschen ihre Meinung mit der eigenen Identität verknüpfen, desto heftiger reagieren sie auf Kritik.
Dass Menschen sich vermehrt aus Debatten zurückziehen, hängt auch mit einer zunehmend aggressiven Kommunikationskultur zusammen, vor allem online. Politische Äußerungen führen häufig zu verletzender Gegenrede und moralischer Abwertung. Kommunikationswissenschaftler sprechen von einem Silencing-Effekt – dem Verstummen aus Angst vor öffentlicher Ächtung. Verstärkt wird dies durch ein Phänomen, das Frauke Rostalski als wachsende „Diskursvulnerabilität“ bezeichnet: eine zunehmende Empfindlichkeit gegenüber Widerspruch.
Je stärker Menschen ihre Meinung mit der eigenen Identität verknüpfen, desto heftiger reagieren sie in der Regel auf Kritik. Diskussionen verkommen zu Lagerkämpfen, in denen nicht mehr das bessere Argument zählt, sondern die lauter artikulierte Emotion.
Auch Freiheit braucht Form.
Soll unsere Gesellschaft funktionieren, wird sie ohne eine Begrenzung der Meinungsfreiheit nicht auskommen. Das klingt hart, ist aber ehrlich. Denn auch Freiheit braucht Form. Allerdings müssen Eingriffe in die Meinungsfreiheit – sei es durch Strafgesetze, Bußgeldtatbestände, Regulierung oder die Beobachtung durch den Verfassungsschutz – zurückhaltend sein und gut begründet werden. Alles andere wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die schon heute von „Gesinnungsdiktatur“ fabulieren. Ihr Misstrauen gegenüber den Repräsentanten des Staates würde sich verstärken.
Es wäre jedoch auch verfehlt zu denken, der Staat müsse sich aus allem heraushalten, was als Meinungsäußerung nicht ausdrücklich verboten ist. Gezielte Desinformation, algorithmisch befeuerte Polarisierung, orchestrierte Einschüchterungskampagnen im Netz – sollte sich der Staat hierum wirklich nicht kümmern dürfen? Die Forderung nach staatlichem Laisser-faire verkennt zum Beispiel, wie stark der öffentliche Diskurs längst durch ausländische Akteure wie Russland und die Betreiber digitaler Plattformen beeinflusst wird.
Wer auf absolute Freiheit pocht, könnte am Ende mit leeren Händen dastehen. Eine schrankenlose Meinungsfreiheit schützt nicht die Vielfalt der Stimmen, sondern die lautesten unter ihnen. Sie wäre keine Stütze der Demokratie, sondern womöglich ihr Totengräber.
Lektüre-Tipp
Frauke Rostalski, Die vulnerable Gesellschaft, Verlag C.H. Beck, Edition Mercator, 4. Auflage 2025, 189 Seiten, 16 Euro.