Kinder schwer verletztMordpläne des Duisburger Messerangreifers waren Ermittlern lange bekannt

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ARCHIV - 28.02.2024, Nordrhein-Westfalen, Duisburg: Beamte der Spurensicherung stehen am Tatort des Angriffs auf zwei Kinder, einige Meter von einer Schule entfernt. Auf einem kleinen Parkplatz hat die Polizei Flatterband gespannt und alles abgesperrt. (zu dpa: «Messerangreifer von Duisburg soll Mord angekündigt haben») Foto: Christoph Reichwein/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Beamte der Spurensicherung stehen am Tatort des Angriffs auf zwei Kinder, einige Meter von einer Schule entfernt.

Ein Einblick in den Bericht des Landes offenbart, welche Fehler zwischen Justiz und Polizei unterliefen.

Er bewunderte Serienmörder, kündigte in den sozialen Netzwerken einen Mord an und war bei bereits wegen häuslicher Gewalt aktenkundig. Der 21-jährige Ron S. aus Duisburg wirkte wie ein hochgradiges Sicherheitsrisiko. Ein psychisch auffälliger junger Mann mit offenkundigen Tötungsfantasien. Am 28. Februar verließ er die Wohnung seines Vaters im Stadtteil Marxloh mit zwei Messern und einem Hammer. Auf der Straße entdeckte er eine neunjährige Grundschülerin und ihren ein Jahr älteren Cousin. Wie von Sinnen soll Ron S. die beiden Kinder mit seinen Waffen vor allem im Kopfbereich traktiert haben. Erst der Vater konnte seinen Sohn entwaffnen und der Polizei übergeben. Die schwerverletzten Opfer retteten sich in die nahegelegene Schule.

51 Tage vergingen, bevor die Polizei die Akte erreichte

Wie sich jetzt im Innenausschuss des NRW-Landtags herausstellte, hätten die Sicherheitsbehörden das Verbrechen vermutlich verhindern können. Die Geschehnisse, die der Bericht von Justiz- und Innenminister beschreiben, deuten auf ein fehlerhaftes Zusammenspiel zwischen Justiz und Polizei hin. Bereits seit Wochen wussten die Strafverfolger, dass Ron S. in den Sozialen Netzwerken ein Kapitalverbrechen angekündigt hatte. Doch es sollten 51 Tage vergehen, ehe die Polizei in Duisburg die Akte mit der Aufforderung zur Durchsuchung bei dem Tatverdächtigen erreichte. Einen Tag, nachdem Ron S. beinahe zwei Kinder getötet hätte.

Die Chronologie beginnt bereits im Februar 2023. Im Zuge einer psychiatrischen Sitzung kündigte der junge Mann an, seine Mutter umzubringen. Ein Familienstreit war der Auslöser. Die Polizei in Duisburg wurde eingeschaltet. Ron S. kam in das Programm „Periskop“. Ein Konzept, um potenzielle Täter mit Gewaltpotenzial zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um sie wieder ins normale Leben einzugliedern.

Drei Monate nach der Prognose griff Ron S. seine Mutter an

Im Sommer söhnten sich Mutter und Sohn aus. Ron S. zog wieder bei ihr ein. Im Oktober 2023 stufte das Polizeiprogramm den Delinquenten als ungefährlich aus. Eine Fehlprognose. Bereits drei Monate später attackierte der Sohn seine Mutter gleich zweimal. Bis heute bleibt unklar, warum Ron S. nicht wieder als gefährliche Person bei Periskop übernommen wurde.

Am 8. Januar 2024 schaltete ein Zeuge die Polizei im bayerischen Straubing ein. Ein Bekannter hatte ihm von einer Nachricht beim Internetdienst Discord berichtet, in dem der Absender „einen Mordanschlag“ für September 2024 angekündigt habe. Den Beitrag ergänzte der Verfasser mit einem Bild, auf dem ein Messer und ein Hammer zu sehen waren. Zudem verherrlichte er in Youtube-Videos Serienmörder.

Der Polizei gelang es, den Absender zu identifizieren. Es handelte sich um Ron S. aus Duisburg. Erst am 29. Januar schloss man die Ermittlungen, am 15. Februar ging der Vorgang bei Staatsanwaltschaft Duisburg ein. Allerdings hatten die Kollegen aus Bayern versäumt, das Deckblatt der Akte mit dem Vermerk Eilbedürftigkeit zu versehen. Die zuständige Staatsanwältin aus Duisburg bat die Polizei in Straubing, ihr die Youtube-Clips zu übermitteln. Die Ermittler mussten eingestehen, dass sie keine Videos gesichert hatten.

Nachdem die Anklägerin weitere Ermittlungsakten zu Ron S. durchgesehen hatte, versuchte sie am 22. Februar, im Eilverfahren einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken, um insbesondere Handy und andere Datenträger des Beschuldigten auszuwerten. Auch sollte die Polizei sofort informiert werden, sobald der Amtsrichter die Durchsuchungsaktion angeordnet hatte.

Zwei Tage vor dem Angriff lies der Richter Akte akribisch durch

Ein weiterer Tag verging, ehe der Haftrichter sich die Ermittlungsakte durchlesen konnte. Zunächst war ihm die Sachlage nicht ganz klar. Zu vage erschien ihm der strafrechtliche Vorwurf. Dennoch versuchte er zweimal, die Kripo telefonisch zu erreichen, um eine vorläufige Festnahme nach dem Polizeigesetz zur Gefahrenabwehr durchzusetzen – allerdings erfolglos.

Der letzte Anruf erfolgte zwei Tage vor dem versuchten Mord an den Kindern. An jenem Tag las sich der Richter nochmals die Ermittlungsakte akribisch durch. Dabei stieß er auf einen Screenshot eines Instagram-Eintrags des Beschuldigten: „Tag 15 in der Freiheit, demnächst plane ich weitere tödliche Verletzungen an irgendwelchen Dummen Randoms (wahllos ausgewählte Personen, Anm. d. Red.), diesmal lasse ich mich nicht erwischen.“ Aufgeschreckt, erließ der Richter einen Durchsuchungsbeschluss. Die Akte ging über die Geschäftsstelle des Amtsgerichts am 29. Februar bei der Polizei in Duisburg ein. Einen Tag, nachdem Ron S. versucht hatte, seine Mord-Ankündigung wahrzumachen.

Obschon noch nicht alle Details in dem Fall geklärt sind, betonte Innenminister Herbert Reul: Nach der jetzigen Berichtslage habe die Polizei Duisburg „keine Informationen“ gehabt, um früher eingreifen zu können.

Die Opposition sah dies anders: „Der Bericht der Landesregierung heute war sowohl für das Innen- als auch für das Justizministerium ein einziger Offenbarungseid“, erklärte die innenpolitischer Sprecherin der SPD, Christina Kampmann. „Niemand wollte für dieses Desaster heute Verantwortung übernehmen. Stattdessen waren alle darum bemüht, Fehler bei anderen zu suchen. Hier muss noch einiges dringend aufgeklärt werden.“

Sven Wolf, Justiziar der SPD-Fraktion im Landtag NRW, fügte an: „Wenn es einen konkreten Hinweis eines Bürgers auf eine Gefährdung gibt, dann darf es nicht 51 Tage dauern, bis die zuständigen Behörden konkrete Maßnahmen ergreifen. Erst recht nicht, wenn es sich bei dem Gefährder um eine polizeibekannte Person handelt.“

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