Vergiftungen an Mädchenschulen im Iran„Es geht darum, die Revolutionsbewegung zu unterdrücken“

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Mitra Nasiri-Sarvi bei einer Demonstration in Deutschland. Sie hält gemeinsam mit anderen Protestierenden eine Iranische Flagge in den Händen.

Mitra Nasiri-Sarvi, eine Düsseldorfer Zahnärztin, kämpft für eine Aufklärung der Anschläge auf Mädchenschulen im Iran.

Iranischstämmige Ärztinnen und Ärzte aus NRW setzen das Auswärtige Amt unter Druck: Sie fordern eine Umsetzung der feministischen Außenpolitik gegenüber dem Iran.

Die Frau auf der Sprachnachricht klingt erschöpft. „Ich habe Tiam zum Arzt gebracht“, sagt sie auf Farsi über ihre Tochter, die eigentlich anders heißt. „Sie hat die letzten Tage nur geschlafen, war schwach und hat nichts gegessen. Jetzt hat sie eine Infusion bekommen, damit das Zeug aus ihrem Körper rausgeht.“ Die Situation sei schwierig, sie selbst leide aus Sorge um Tiam unter Angstzuständen.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll. In Tiams Schule hat sich so ein merkwürdiger Geruch verbreitet. Die Lehrerin hat wirklich gute Arbeit geleistet: Sie hat die Kinder in ein Zimmer gebracht, in dem sie den Geruch nicht abbekamen, dann rief sie die Eltern an. Und trotzdem ist Tiam jetzt in so einem Zustand.“

Fast täglich Meldungen über Mädchen, die über Symptome klagen

Am 30. November 2022 geschah der erste chemische Gasangriff auf eine Schule im Iran. Er traf eine Mädchenschule in Ghom, einer Millionenstadt südlich von Teheran. Seitdem registrieren Nichtregierungsorganisationen fast täglich Meldungen über Mädchen, die unter Hautausschlägen, Bauchschmerzen und Übelkeit leiden, die über Taubheitsgefühlte und Muskelschwäche klagen.

Mindestens zwei Mädchen sollen in Folge der Vergiftungen gestorben sein, von zahlreichen Erblindeten und Schwerverletzten ist in Zeugenberichten die Rede. Eine Gruppe von Mediziner mit iranischen Wurzeln versucht von Düsseldorf aus, die Verbrechen im Iran aufzuklären, wertet Zeugenaussagen wie die von Tiams Mutter und Videos aus. Und sie setzen das Außenministerium unter Druck.

Iranischer Vize-Minister beschuldigt Mädchen, sich selbst zu vergiften

„Wir können die Wahrhaftigkeit der Aussagen und Videos nicht schwarz auf weiß belegen, weil wir nicht dort sind. Aber wir haben Listen und Berichte mithilfe Hunderter Kontakte und Quellen erstellt“, sagt Mitra Nasiri-Sarvi. Die Düsseldorfer Zahnärztin hat sich mit rund 100 deutschen Ärztinnen und Pharmazeuten zum Netzwerk ParsiMed zusammengeschlossen. Seit Beginn der Revolution sammelt die Gruppe Belege für Körperverletzungen, Folter und ungerechtfertigte Inhaftierungen im Iran, für Vergewaltigungen und Hinrichtungen.

Seit Ende November gehen sie auch Hinweisen nach über Kinder, die nach Gasanschlägen an Schulen verletzt und traumatisiert sind. „Wir wissen, dass das Regime Aufklärung der Anschläge systematisch verhindert. Dass Menschen verschleppt, inhaftiert, gefoltert und getötet werden – und das Mädchen unseren Informationen nach an rund 250 Schulen mit Gas vergiftet worden sind“, sagt Nasiri-Sarvi. Rund 13.000 Kinder sind nach Informationen von ParsiMed von den Gasanschlägen betroffen. Allein für den 6. März registriert das Netzwerk 91 Gas-Anschläge an Schulen. Die Zahlen stimmen mit vielen internationalen Berichten überein.

Ebenfalls am 6. März brach die iranische Regierung ihr Schweigen. Der oberste Führer der Islamischen Republik Ali Chamenei bezeichnete die Vergiftungen in einer Fernsehansprache als „unverzeihliches Verbrechen“ und ordnete an, die Täter ausfindig zu machen und hart zu bestrafen. Einen Tag später meldete das Innenministerium fünf Festnahmen von Verdächtigen, nähere Angaben blieben aus. Der Vize-Innenminister beschuldigte im Staatsfernsehen die Schülerinnen, sich selbst und Klassenkameradinnen vergiftet zu haben. Es handele sich um ein „kindisches Abenteuer“.

„Ein kompletter Wirtschaftsboykott der EU gegen den Iran wäre ein Statement“

ParsiMed schickt dieser Zeitung Nachrichten aus dem Iran, von Tiams Mutter, von einem Krankenhaus-Arzt, der berichtet, dass er niemals Folter oder „Einatmung giftiger Gase“ als Diagnose angeben dürfe. Er behandle jedoch viele Menschen mit Hautausschlägen sowie Schlag- und Projektilverletzungen. „Über Freunde, Bekannte und Arbeitskolleginnen aus dem Iran haben wir Kontakt mit sehr vielen Medizinern, die davon berichten, ständig falsche Diagnosen ausstellen zu müssen“, sagt Nasiri-Sarvi.

„Es geht darum, die Revolutionsbewegung zu unterdrücken und den Menschen langfristige Schäden zuzufügen“, ergänzt die Pharmazeutin Soheila Anzali. Bis heute habe das Regime nichts zu den Inhaltsstoffen der giftigen Gase gesagt. Die Frustration der iranischen Bevölkerung über die Anschläge wächst: Vergangene Woche brachten die Giftanschläge Schulleiter und Eltern auf die Straßen. In der Bevölkerung verbreiten sich Gerüchte über mehr Todesopfer, als das Regime offiziell bestätigt.

ParsiMed organisiert international Demonstrationen gegen das iranische Regime, unterstützt die Zivilbevölkerung im Iran mit Geld und der Verbreitung zum Beispiel von Erste-Hilfe-Maßnahmen nach dem Einatmen giftiger Gase. Vor allem aber machen die Ärztinnen und Pharmazeuten die Öffentlichkeit auf die dramatische Situation in dem islamischen Staat aufmerksam. Sie fordern „ein Ende der Lippenbekenntnisse der deutschen Bundesregierung“. Es reiche nicht aus, „ein paar Leute auf eine Sanktionsliste zu setzen. Ein kompletter Wirtschaftsboykott der EU gegen den Iran wäre ein Statement. Und eine unabhängige Aufklärung der Gasanschläge, für die das Regime seit drei Monaten keine Ursache angegeben hat“, sagen Anzali und Nasiri-Sarvi.

Röttgen fordert ein Ende des Handels Deutschlands mit dem Iran

Eine Einschätzung, die CDU-Außenexperte Norbert Röttgen teilt. Der Bundestagsabgeordnete aus dem Rhein-Sieg-Kreis bezeichnete die Frauenrevolution jüngst in einem Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ als einen „Glaubwürdigkeitstest für die feministische Außenpolitik“. Bisher bestehe Baerbock ihn nicht.  „Das Attribut ‚feministisch‘ wird in der Haltung zum Iran konsequent ignoriert“, so Röttgen. „Auch der Handel geht trotz des menschenverachtenden Vorgehens des Regimes unbeeinträchtigt weiter.“ Röttgen fordert den Stopp jeglicher Wirtschaftsbeziehungen mit dem Iran, deren größter Handelspartner Deutschland in der Europäischen Union ist. „Ich finde es nicht akzeptabel, dass unter staatlicher Kontrolle stehende Unternehmen in Deutschland Geschäfte machen, während im Iran Frauen und Mädchen drangsaliert, vergiftet, verhaftet und gefoltert werden. Das passt nicht zusammen.“

Das Auswärtige Amt schreibt auf Anfrage, der Handel zwischen Deutschland und dem Iran befinde sich auf einem historisch niedrigen Niveau. Ein Großteil der Exporte beschränke sich mittlerweile auf humanitäre Güter wie Lebensmittel, Medizinprodukte und Medikamente. „Ein weiterer Rückgang des Handels könnte erhebliche negative Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft haben. Gezielte Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die brutale Gewalt auf den Straßen sind zielfördernder.“

Einreisesperren für 139 Organisationen und Personen

Baerbocks Ministerium erwarte eine „lückenlose Aufklärung“ der Vergiftungen an Mädchenschulen. „Mädchen müssen ohne Angst und unbeschadet zur Schule gehen können, das ist ihr Menschenrecht.“ Dafür setze sich auch die feministische Außenpolitik der Ministerin ein. „Im iranischen Kontext heißt Feministische Außenpolitik, dass es kein ‚weiter so‘ in den bilateralen Beziehungen mit einem Regime geben kann, das mit brutalster Gewalt gegen mutige Frauen und andere Protestierende vorgeht.“

Die Bundesregierung habe gemeinsam mit den weiteren EU-Staaten seit Beginn der Proteste 139 Personen und Organisationen mit Einreisesperren belegt und ihre Vermögen eingefroren. EU-Bürgern und Unternehmen ist es seither verboten, diesen Personen Geld zu überweisen. Die Hälfte der Listungen betreffe Entscheidungsträger und Unterorganisationen der Revolutionsgarden.

Mitra Nasiri-Sarvi und Soheila Anzali sagen, dass sei „nicht mehr als traurige Symbolpolitik. Damit hilft die Bundesregierung der mutigen Demokratiebewegung im Iran nicht“.

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