Der abwesende ZarWenn's schlecht läuft, taucht Putin ab

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Ein zersprungenes Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin liegt auf dem Boden.

Russlands Präsident Wladimir Putin

Der russische Präsident Wladimir Putin verhält sich in jüngster Zeit auffallend schweigsam – zumindest, was für ihn ungünstige Entwicklungen in der Ukraine betrifft. Den Rückzug aus Cherson erwähnte er bislang nicht.

Als die russische Militärführung vor laufenden Kameras den Rückzug aus Cherson verkündete, fiel das Fehlen eines Mannes im Raum auf: des Präsidenten. Wladimir Putin besuchte währenddessen am 9. November eine neurologische Klinik in Moskau, wo er eine Hirnoperation verfolgte. Später sprach er bei einer anderen Veranstaltung, erwähnte aber mit keinem Wort den für Russland demütigenden Truppenabzug aus der wichtigen Stadt im Süden der Ukraine. Auch in den folgenden Tagen äußert er sich nicht öffentlich dazu.

Putins Schweigen fällt in eine Zeit zunehmender Rückschläge für sein Land bei den seit fast neun Monaten andauernden Kämpfen. Der Präsident scheint für die Überbringung schlechter Nachrichten andere vorzuschicken – eine Taktik, die er schon während der Corona-Pandemie verfolgt hatte.

Illegale Annektion im September

Cherson war die einzige Regionalhauptstadt, die die russischen Truppen in der Ukraine eingenommen hatten. Schon in den ersten Tagen der Invasion besetzten sie die Stadt und einen Großteil der Region, die ein wichtiger Zugang zur Halbinsel Krim ist.

Ende September annektierte Moskau illegal die Region Cherson sowie drei weitere ukrainische Provinzen. Putin war persönlich Gastgeber einer pompösen Zeremonie in Kreml, bei der die Annexion im September formell festgeschrieben wurde. Er verkündete, die Bewohnerinnen und Bewohner von Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja würden „für immer“ zu russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern.

Abzug aus Cherson nie erwähnt

Doch nur gut einen Monat später verschwanden die russischen Trikoloren wieder von Regierungsgebäuden in Cherson und wurden durch die gelb-blauen Flaggen der Ukraine ersetzt. Der Rückzug aus Cherson und Umgebung bis zum Ostufer des Dnjeprs (Dnipros) war nach russischen Militärangaben am 11. November abgeschlossen. Der Präsident hat den Abzug seitdem bei keinem seiner öffentlichen Auftritte erwähnt.

Putin „lebt weiter in der alten Logik“, schrieb die Politologin Tatjana Stanowaja kürzlich in einem Kommentar: „Das ist kein Krieg, es ist eine Spezialoperation, wichtige Entscheidungen werden von einem kleinen Kreis ‚Experten‘ g getroffen, während der Präsident Abstand hält.“ Dabei hatte Putin gerüchteweise einst persönlich den Militäreinsatz in der Ukraine beaufsichtigt und Generälen Befehle zu den Kämpfen erteilt. Doch in den vergangenen Tagen schien er sich auf alles andere als den Krieg zu konzentrieren.

Insolvenzverfahren und Probleme der Autoindustrie

Er beriet mit Regierungsvertretern über Insolvenzverfahren und Probleme der Autoindustrie, sprach mit einem sibirischen Gouverneur über die Förderung von Investitionen in dessen Region, telefonierte mit mehreren Staats- und Regierungschefs und traf sich mit dem neuen Präsidenten der Russischen Akademie der Wissenschaften. Am Dienstag leitete er ein Videotreffen über Kriegsdenkmäler. An diesem Tag war eigentlich eine Rede Putins beim G20-Gipfel in Indonesien erwartet worden – doch er verzichtete nicht nur auf eine Anreise, sondern auch auf eine Teilnahme per Videokonferenz und die Einreichung eines voraufgezeichneten Statements.

Der unabhängige Politikexperte Dmitri Oreschkin führt Putins Zurückhaltung auf die Tatsache zurück, dass der Präsident an einem politischen System nach sowjetischem Vorbild festhalte. Hier könne der Chef per Definition keine Fehler machen. „In Putins System werden für alle Niederlagen andere verantwortlich gemacht“, erklärt Oreschkin. „Wenn er irgendwo verloren hat, ist das erstens unwahr, und zweitens ist es nicht seine Schuld.“

Unmut bei den eigenen Anhängern

Putins Schweigen zu wichtigen Entwicklungen im Krieg stößt nun selbst bei einigen seiner Anhänger auf Unmut. Dass er sich nicht zum Rückzug aus Cherson geäußert habe, sei besorgniserregender als „die Tragödie von Cherson selbst“, schrieb der Kreml-nahe Politologe Sergej Markow in einem Facebook-Post. Das Verhalten des Präsidenten sei eine „Demonstration eines totalen Rückzugs“.

Andere versuchen, die Entwicklung positiv zu interpretieren und das auch Putin zuzuschreiben. Mit dem Rückzug habe der Präsident Menschenleben retten wollen, sagte der regierungstreue TV-Moderator Dmitri Kisseljow in seiner Nachrichtensendung am Sonntagabend.

Ablenkung durch verstärkte Raketenangriffe

Um Hardliner, die von den Ereignissen in Cherson nicht begeistert waren, zufriedenzustellen, verschärfte der Kreml nach Angaben von Oreschkin die Raketenangriffe auf das ukrainische Stromnetz. Millionen Menschen saßen am Dienstag im Dunkeln, nachdem Russland etwa 100 Raketen und Drohnen auf Ziele im ganzen Land abgefeuert hatte.

Viel Wirbel um die Angriffe zu machen, sei aus Sicht der Regierung aus einem Grund notwendig, erklärt der Experte: um Putin weiter als siegreichen Führer dastehen zu lassen.(RND)

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