Kölner kämpft für ukrainische Armee„Wer sagt, er hätte keine Angst, ist entweder verrückt oder lügt. Alle haben Angst“

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Hugo (Name geändert) kämpft seit knapp zwei Jahren für die Ukraine

Hugo (Name geändert) kämpft seit knapp zwei Jahren für die Ukraine.

Vor knapp zwei Jahren meldete sich der Deutsch-Ukrainer Hugo freiwillig, um in den Krieg zu ziehen. Ein Protokoll.

Ein Nachmittag kurz nach Karneval. Hugo und seine Partnerin Lessja sitzen in der hinteren Ecke eines Cafés in der Kölner Südstadt, einige Tage zuvor ist er von einem Fronteinsatz nach Köln zurückgekehrt. Während aus der Küche das Klirren von Geschirr und das Zischen der Kaffeemaschine zu hören ist, wischt der Deutsch-Ukrainer auf seinem Handy durch Fotos und Videos vom Krieg. Hugo bei einer Militärübung, er liegt am Boden, zielt durch das Fernrohr seines Maschinengewehrs. Hugo im Schützengraben, seine Finger formen den hawaiianischen Surfergruß. Ein Selfie auf einem grünen Feld, im Hintergrund rollt ein gepanzertes Fahrzeug mit Ukraine-Flagge. Vor knapp zwei Jahren tauschte Hugo, der wie Lessja eigentlich anders heißt, sein Leben in Köln gegen den Krieg.

„Der Krieg hat mir gezeigt, wie zerbrechlich das Leben und die Träume sind. Ich habe in Köln gelebt, wohnte mit meiner Freundin zusammen, ging zur Arbeit, fuhr einmal im Jahr in den Urlaub. Ich war Teil dieser Routine, dieser Gesellschaft. Der Krieg riss mich aus dieser Komfortzone. Es ist alles so absurd. Wie irre muss man sein, um im Jahr 2022 ein anderes Land zu überfallen?

Hoffnung auf Frieden bis zum Schluss

Ich wurde 1987 in der Nähe von Charkiw geboren, in einer kleinen Stadt sieben Kilometer von der russischen Grenze entfernt. In der neunten Klasse zog ich mit meinen Eltern nach Kyiv. Neben meinem Studium an der Technischen Universität hatte ich die Möglichkeit, im Rahmen des Wehrdienstes eine Militäruniversität parallel abzuschließen, entschied mich danach aber gegen eine Karriere in der Armee. Weil meine Partnerin Lessja hier lebte, zog ich 2010 nach Deutschland.

Ich habe bis zum Schluss gehofft, dass Russland die Ukraine doch nicht angreift. Aber als ich am 24. Februar um sechs Uhr aufwachte, sah ich die Nachricht meiner Mutter. Sie schrieb nur ein Wort: Krieg. Meine Eltern leben noch immer in Kyiv. Natürlich machte ich mir Sorgen, doch meine größte Angst war, dass ich etwas nicht mitbekomme. Ich fühlte mich hilflos, konnte nur am Handy nachverfolgen, was in der Ukraine passiert, hangelte mich von einer Nachricht zur nächsten.

Schon 2014 hatte ich überlegt, zurück in die Ukraine zu gehen und zu kämpfen. Lessja überredete mich damals zu bleiben. Vor zwei Jahren versuchte sie es nicht mehr. Sowohl Lessja als auch meine Eltern sagten: Es ist deine Entscheidung. Aber bereite dich gut vor, denn Sterben geht schnell.

„Falls wir Kinder bekommen, sollen sie nicht ebenfalls mit 35 Jahren ihr Testament schreiben“

Ich konnte anfangs nicht zurück in die ukrainische Armee, weil ich deutscher Staatsbürger bin. Mitte März gründete sich die internationale Legion. Ich meldete mich bei ihnen, schickte ihnen meine Unterlagen, im April bekam ich die Zusage. Vor der Abreise fuhr ich mit Lessja für ein paar Tage in die Natur, raus aus Köln und ich schrieb mein Testament. Der erste Abschied von ihr war der Schwerste. Ich wusste, wie viele Soldaten schon ums Leben gekommen sind und dachte: Vielleicht sehe ich gerade alles zum letzten Mal.

An meiner Entscheidung, an die Front zu gehen, habe ich nie gezweifelt. Aber Angst hatte ich schon. Wer sagt, er hätte keine Angst, ist entweder verrückt oder lügt. Alle haben Angst. Alle.

Ich meldete mich trotzdem freiwillig, weil ich endlich einen Schlussstrich ziehen wollte unter den Kriegen zwischen Russland und der Ukraine. Das alles begann nicht 2022, auch nicht 2014, Russland hat schon einmal die Ukraine erobert und versucht, die ukrainische Sprache und Kultur auszulöschen. Jetzt greift Russland wieder das Land an, in dem meine Eltern und meine Freunde leben. Ich will, dass das endlich aufhört. Falls wir irgendwann Kinder haben, sollen sie nicht ebenfalls mit 35 Jahren ihr Testament schreiben müssen.

Im Juni 2022 fuhr ich mit der internationalen Legion zum ersten Mal an die Front. Die ersten zwei Tage waren relativ ruhig. Doch am dritten Morgen hörten wir neben uns eine Explosion: Circa 500 Meter entfernt rollte ein Panzer auf uns zu. Dieses Geräusch, dieser Klang der Ketten – das ist nicht zu beschreiben. Ich hatte zum ersten Mal Todesangst. Denn was sollte ich mit einem Maschinengewehr gegen einen Panzer ausrichten? Einer unserer Nachbarn hatte eine Panzerfaust, wir aber nicht. Wir hatten Glück: Der Panzer drehte und fuhr an uns vorbei.

Hugo (Name geändert) kämpft seit knapp zwei Jahren für die Ukraine.

Hugo (links) mit seiner Einheit

Nach dem Sommer durfte ich doch in die ukrainische Armee wechseln. Das machte es etwas leichter für mich, denn bei der internationalen Legion sprachen wir nur Englisch. Und bei allem Respekt: Wenn ein Schotte auf Englisch Anweisungen ins Walkie-Talkie spricht, verstehe ich nur die Hälfte. Mit der ukrainischen Armee bin ich im Donbas eingesetzt, derzeit kämpft mein Bataillon dort im Norden.

„Das menschliche Gehirn kann sich an vieles gewöhnen“

Um alles zu erzählen, was ich in den vergangenen zwei Jahren erlebt habe, bräuchte es zwei Wochen, mindestens. Einmal schlug eine Gleitbombe 300 Meter entfernt von uns ein, die Druckwelle war so stark, dass ich eine leichte Gehirnerschütterung davontrug. Viele Soldaten aus meinem Bataillon sind heute tot, darunter auch zwei meiner engen Freunde. Einen erschoss ein Scharfschütze im November 2022 beim Räumen von Minen. Der andere, wir nannten ihn Berg, wurde einen Monat später in der Nähe von Bachmut getötet, ebenfalls von einem Scharfschützen. Ich erinnere mich gut an die Nacht, in der er starb, an den Regen und den Matsch. Für ihn habe ich mir einen Berg auf den Arm tätowieren lassen. Erst vor drei Wochen sah ich, wie die Jungs einen toten Soldaten in einen Leichensack legten. Sie zurrten gerade den Reißverschluss zu, als jemand rief: „Wartet! Wartet!“ und die Hand des Soldaten mit in den Sack legte.

Einmal versuchten die Russen, unsere Position zu stürmen. So eine dumme Attacke, das war eigentlich Selbstmord. Alle 72 russischen Soldaten sind bei dem Angriff gestorben. Später stellte sich heraus: Das war ein Ablenkungsmanöver, weil sie gleichzeitig auch an einer anderen Linie angriffen. Das verdeutlicht, wie wenig ein Menschenleben in Russland wert ist.

Das soll nicht klingen, als sei ich verrückt, aber: Ich komme psychisch mit all dem ganz okay klar. Das menschliche Gehirn kann sich an vieles gewöhnen. Das erste, zweite, dritte Mal hat mich der Anblick von entstellten Leichen noch richtig schockiert. Und jetzt? Jetzt ist das für mich normal. Ich bin nur traurig, wenn wir unter den Toten Jungs von uns finden. In den Feldern zwischen uns und den Russen liegen teils über hundert Leichen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das im Sommer riecht. Aber wir werden nicht das Leben unserer Soldaten riskieren, um die Leichen unserer Feinde zu bergen.

Auch die Zivilisten haben sich an den Krieg gewöhnt. Wenn meine Mutter morgens das Haus verlässt und eine Rakete hört, wartet sie zehn bis 15 Minuten. Kommt keine zweite Rakete, fährt sie zur Arbeit wie an jedem anderen Tag auch. Schlägt eine zweite Rakete ein, macht sie Home Office.

„Dieser Krieg kann nur enden, wenn Russland kapituliert“

An der Front ist Humor alles, er rettet uns. Auch, wenn mein Humor deutlich schwärzer geworden ist. Der Krieg verändert Menschen. Materieller Besitz wie ein neues iPhone ist mir heute komplett egal. Früher habe ich Zelten gehasst, schlief am liebsten in meinem eigenen Bett und aß nichts, was ich nicht kannte. Heute kann ich überall schlafen, ich esse jedes Essen, das noch nicht abscheulich stinkt. Und ein Kopf ohne Körper schockiert mich nicht mehr.

Zwischen meinen Einsätzen darf ich für einige Zeit nach Köln zurückkehren. Jedes Mal brauche ich mehr Zeit, um im zivilen Leben anzukommen. Auch jetzt bin ich schon wieder mit dem Kopf an der Front, suche in den Chatgruppen nach Neuigkeiten über meine Einheit.

An guten Tagen haben wir an der Front gerade genug Waffen, um den Status quo zu halten und genau dort stehen zu bleiben, wo wir gerade sind. An schlechten Tagen kriegen wir nicht einmal dafür genug. Wir brauchen mehr Waffen, wir brauchen schwere Waffen. Dieser Krieg kann nur enden, wenn Russland kapituliert.

Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht. Würde ein anderer Präsident als Putin den Krieg beenden? Ich denke nicht. Laut Umfragen unterstützen fast 80 Prozent der Russen den Krieg. Das ist nicht Putins Krieg, er führt ihn doch nicht allein. Ich glaube auch nicht, dass der Krieg endet, wenn die Ukraine Territorium abgibt. Und selbst wenn: Sieht so Frieden aus? Wenn zwar keine Panzer mehr fahren, aber du in einer Diktatur lebst und nicht aussprechen darfst, was du denkst? Für mich nicht.“

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