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Experte über Cybergrooming„Täter bieten Kindern Amazon-Gutscheine für Nacktbilder“

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Wie schnell aus einem netten Netz-Geplänkel mit einem neuen „Freund“ Ernst werden kann, ahnen viele Kinder und Jugendliche nicht.

Kinder und Jugendliche verbringen sehr viel Zeit im Internet – durch die Corona-Zeit mehr denn je. Dass sie dort in Gefahr geraten können, ist vielen kaum bewusst. Ein Gespräch mit Cybercrime-Experte und Kriminalhauptkommissar Dirk Beerhenke vom Polizeipräsidium Köln.

Wie stark sind Kinder von Cyberkriminalität betroffen? Wie häufig sind sie Opfer?

Dirk Beerhenke: Das ist zahlenmäßig schwer zu erschließen, weil diese Straftaten oft nicht anzeigen werden. Wir vermuten ein großes Dunkelfeld. Oftmals wissen Kinder und Jugendliche gar nicht, dass das, was ihnen im Netz passiert, strafbar ist. Sie teilen es dann auch nicht ihren Eltern mit. Ich bin regelmäßig mit Schülern in Kontakt und auf Nachfrage berichten viele, dass sie zum Beispiel seltsame Mails erhalten haben oder ihr E-Mail- oder Spiele-Konto schon einmal gehackt worden ist. Ihnen ist oft nicht bewusst, dass es auch Diebstahl ist, wenn Fremde etwas aus dem Bestand eines Spielkontos klauen. Was gehört zu den größten Gefahren, wenn Kinder im Netz unterwegs sind?

Ein großes Problem ist das Cybergrooming. Bei diesen Taten nehmen Täter Kontakt zu Kindern und Jugendlichen im Netz auf und gewinnen zunächst ihr Vertrauen, um später sexuell orientierte Handlungen vorzunehmen, genauer gesagt Bilder oder Videos und manchmal sogar Treffen einzufordern. Das Problem nimmt weltweit zu. Auch Europol hat jüngst davor gewarnt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass unsere Kinder im Netz immer mehr belästigt werden.

Wie gehen die Täter vor?

Die erste Kontaktaufnahme passiert oft über Spiele oder Foren im Internet. Zuletzt gab es zum Beispiel einen Fall, in dem sich ein Mann als jünger ausgegeben und Kindern Amazon-Gutscheine angeboten hat – für Nacktbilder.

Oft fängt es damit an, dass von dem Kind ein Oben-ohne-Foto gefordert wird. Das wird danach als Druckmittel eingesetzt. Der Täter droht, es zu veröffentlichen, wenn das Opfer nicht noch mehr Bilder schickt. Klare Erpressung. Oft ist der Druck derart massiv, dass Kinder nicht darüber reden wollen. Es gibt häufig auch kein echtes Problembewusstsein bei den jungen Menschen.

Warum gehen die Kinder überhaupt auf so etwas ein?

Sie werden hofiert. Die Kontaktaufnahme ist überaus freundlich. „Grooming“ bedeutet auch so etwas wie „versorgen“, „pflegen“, „eine Verbindung schaffen“. Die Täter wollen erst einmal das Vertrauen des Kindes bekommen, um später ihr Ziel zu erreichen. In einem Fall hat sich ein Mann als gleichaltrig ausgegeben und den Kontakt zum Kind über eineinhalb Jahre gepflegt, bevor das erste Treffen ausgemacht wurde.

Manche Täter geben sich auch als Berühmtheit aus. Vor kurzem kamen Eltern mit ihrer 13-jährigen Tochter zu uns, die total verliebt war in einen angeblich berühmten Youtuber. Sie schrieb regelmäßig mit ihm. Für die Erwachsenen war es total ersichtlich, dass jemand ganz anderes dahinter steckt. Er hatte für sich und das Mädchen bereits eine Hotelübernachtung gebucht.

Sind manche Kinder besonders empfänglich für solche Zuwendung von Fremden?

Ja, das schon. Es kann aber in allen Bereichen vorkommen, sowohl bei Kindern, die vernachlässigt werden, als auch bei Kindern, die überbehütet werden. Die Kinder handeln jeweils aus unterschiedlichen Motivationen heraus. Wenn sie zuhause zu sehr behütet werden, dann fliehen die Kinder aus dieser Bevormundung und suchen sich jemanden, mit dem sie sich auf einer ganz anderen Ebene austauschen können. Und diese Bühne bekommen sie eben durch solche Täter, die oft sehr empathisch sind und sich auf das Kind einstellen. Für vernachlässigte Kinder auf der anderen Seite geht der Himmel auf, wenn sie plötzlich virtuell in den Arm genommen werden.

Was sollten Kinder oder Eltern tun, wenn so etwas passiert?

Eltern sollten solche Kontaktaufnahmen sofort anzeigen. Denn nur das hilft, die Täter schneller zu fassen. Eine Spur, also einen Account oder eine Nummer, die wir als Polizei nachverfolgen können, gibt es immer. Und wir haben nur Erfolg, wenn wir den Tätern die Grenzen aufzeigen und deutlich machen, dass es hier keine Toleranz gibt. Das ist Kinderpornografie. Schon der Besitz eines Kinderpornobildes ist strafbar, es anzufordern ist sogar noch schlimmer.

Im Augenblick habe ich aber den Eindruck, die Täter fühlen sich noch recht sicher. Sie schicken teilweise sogar Fotos von ihrem Gesicht als Teil einer ersten Kontaktaufnahme. Da schreibt ein Sechzigjähriger ganz offen: „Hallo, wie findest du mich?“

Wie kann man Kinder für solche Situationen sensibilisieren?

Eltern sollten schon bei der Anschaffung des Smartphones Regeln mit dem Kind vereinbaren. Auch sollten sie das Telefon des Kindes immer wieder durchschauen und wissen, mit wem ihr Kind in Kontakt ist. Wenn ein Bekannter oder eine Bekannte des Kindes an der Haustür steht, wollen Eltern ja auch wissen, wer das ist. Wir sollten diese Werte aus der realen Welt auch in die digitale Welt übertragen.

Sollte man schon mit seinen Kindern darüber sprechen, was im Netz alles passieren könnte – auch wenn noch nichts geschehen ist?

Auf jeden Fall, Eltern sollten proaktiv vorgehen und darüber sprechen, wie das Kind sich verhalten kann, wenn tatsächlich mal etwas im Netz passiert. Sie sollten zudem über all die Dinge berichten, die gefährlich werden könnten. Zum einen natürlich über Cybergrooming, aber zum Beispiel auch über Porno-Mails oder Störer in Videochats. Immer wieder schalten sich Fremde in Videokonferenzen ein und zeigen sich dort nackt oder onanieren. Eltern sollten Kinder darauf vorbereiten, dass es sein kann, dass der Unterricht durch so etwas gestört wird.

Jüngst haben einige Kinder auch eine Nachricht bekommen, in der eine fürchterliche Roboterstimme gedroht hat, ihre Eltern zu töten. Und vor so etwas müssen Kinder gewarnt werden. Auch im Unterricht muss das thematisiert werden. Schule und Eltern müssen dabei eng zusammenarbeiten und klare Handlungsanweisungen festlegen.

Verbreiten die Kinder solche Inhalte auch untereinander weiter?

Ich war neulich in einer siebten Klasse, weil dort im Klassenchat Pornos, Gewaltvideos und volksverhetzende Inhalte herumgingen. Die Lehrer haben mich darüber informiert. Natürlich war sofort eine Anzeige fällig. Viele Eltern denken, ihre Kinder haben keine Ahnung von so etwas. Doch bereits Zwölfjährige haben oft schon jegliche Arten von Pornografie gesehen. Wir Erwachsenen müssen das thematisieren.

Werden Kinder denn zur Rechenschaft gezogen, wenn sie solche Inhalte verbreiten?

Kinder sind schuldunfähig und straffrei, aber sie werden natürlich verwarnt. Und sie bekommen die Begleiterscheinungen zu spüren. Wenn jemand ein Nacktfoto ins Internet stellt oder die Mitschülerin auf der Toilette filmt und das Foto im Klassenchat verbreitet wird, dann wird das Handy als Tatmittel eingezogen. Davor haben die Kinder natürlich einen Höllenrespekt. Faktisch müssten in so einem Fall sogar die Smartphones aller Schüler eingezogen werden, da jeder, der das Bild oder Video im Chat gesehen hat, Besitzer dieses Bilds ist. Das ist selbst vielen Erwachsenen nicht bewusst.

Wie bringt man Kindern bei, wie sich derjenige fühlt, dessen Nacktbild verbreitet wird?

Auch hier geht es darum, im Alltag und im Unterricht bestimmte Werte zu vermitteln. Dazu gehört etwa, wie man miteinander spricht und dass man niemanden vorführen oder beleidigen darf. Die Kinder müssen verstehen lernen, dass diese Verhaltensweisen auch in der digitalen Welt gelten.

Mehr Infos zum Thema Cybergrooming: 

Info-Seiten der Polizei: Stichwort „Cybergrooming“

klicksafe.de – Die EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz

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