Funkstille„Eltern werden kalt erwischt, wenn das Kind den Kontakt abbricht“

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Deprimierte ältere Frau blickt sorgenvoll aus dem Fenster.

Beendet ein erwachsenes Kind den Kontakt, bleiben Eltern mit Fragen und Sorgen zurück.

Bricht ein Kind mit seinen Eltern, sind die oft fassungslos. Wie kann man mit so einem Verlust leben? Eine Familientherapeutin gibt Rat.

Es ist für die meisten Eltern wohl unvorstellbar, dass ihr erwachsenes Kind einmal den Kontakt zu ihnen abbrechen könnte. Schließlich gehört man doch ein Leben lang zusammen, oder? Und dennoch passiert es immer wieder – eine Tochter oder ein Sohn trifft die Entscheidung, nichts mehr mit den Eltern zu tun haben zu wollen. Nicht nur die fragen sich dann: Wie konnte es so weit kommen?

Hört man von einem großen Bruch zwischen Eltern und Kind, entstehen sofort heftige Bilder im Kopf. Wenn ein Mensch so eine finale Lösung wählt, muss ja wohl Drastisches vorgefallen sein. In der Tat gibt es Familien, in denen die Loslösung vom Elternhaus auch noch für ältere Kinder überlebenswichtig sein kann. Um diese Fälle aber soll es hier nicht gehen. Im Fokus stehen Kontaktabbrüche, die immer wieder in ganz „normalen“ Familien passieren, als Dynamik zwischen Eltern und Kind. Und sie laufen in Wahrheit viel stiller und plötzlicher ab, als man denkt.

Eltern sind wütend und ratlos – doch es bleibt still

„In der Regel werden die Eltern kalt erwischt, wenn das Kind den Kontakt beendet, sie sehen das überhaupt nicht kommen“, sagt Familientherapeutin Christiane Jendrich. Für das Kind sei dieser Schritt die letzte Konsequenz einer langen Leidenszeit, die Eltern aber fielen oft aus allen Wolken. „Bei den Verlassenen herrscht häufig Empörung, Wut und Enttäuschung. Sie fragen sich: Was bildet sich mein Kind eigentlich ein, uns die Tür zuzumachen!“ Am Anfang seien viele Eltern aber auch verzweifelt und fragten immer wieder beim Kind nach, was denn los sei. „Doch egal, was die Eltern tun oder denken, sie bekommen keine Antworten, es bleibt still. Sie stochern wie im Heuhaufen nach Erklärungen.“ Das sei auf Dauer unglaublich zermürbend und erschöpfend.

Dazu komme bei den Eltern häufig auch noch ein Schamgefühl – vor sich selbst und anderen. „Sie verschweigen die Situation, weil sie fürchten, andere könnten denken: ‚Was müssen das für Eltern sein!‘“ Dabei ist die Frage nach der Schuld in solchen Fällen ganz schwierig zu beantworten. Denn das kommt auf die Perspektive an. „Die Kinder fühlen sich als Opfer – bis zum Kontaktabbruch, dann werden sie quasi zum Täter“, sagt Jendrich. „Und die Eltern sind aus Kindessicht die Täter, sie empfinden sich aber nach dem Abbruch als Opfer. Doch eigentlich gibt es weder Opfer noch Täter, nur Betroffene.“ Immer seien solche Fälle ein sehr komplexes Zusammenspiel mehrerer Faktoren.

Für die Kinder ist der Kontaktabbruch eine Erleichterung 

„Jeder Kontaktabbruch ist individuell und hat mit der Persönlichkeit, der Geschichte des Familiensystems, aber auch mit Erwartungen und Bedürfnissen zu tun.“ Es gebe aber Muster, die sich immer wieder zeigten. „In der Regel fühlt sich das Kind nicht verstanden, gesehen und gehört. Es hat das Gefühl, nicht so akzeptiert zu werden, wie es ist“, erklärt Christiane Jendrich. Die Sicht der Eltern sehe dagegen in der Regel anders aus. „Das Fatale daran ist, dass manche Eltern es mit ihrem Verhalten zuvor tatsächlich gut gemeint haben.“ Auch deshalb seien sie bei einem plötzlichen Kontaktabbruch so geschockt. „Es ist, als hätten Eltern und Kinder zuvor in zwei parallel laufenden Welten gelebt. Ihre Perspektiven auf die gleichen Erlebnisse waren komplett unterschiedlich, aber sie konnten nicht miteinander darüber sprechen.“

Portraitfoto der Familientherapeutin Dr. Christiane Jendrich

Dr. Christiane Jendrich ist Systemische Therapeutin und Familientherapeutin in Köln

Aus seiner Sicht hat ein Kind natürlich gute Gründe, den Kontakt zu beenden. „Für die verlassenden Kinder hat die Belastung lange vor dem Kontaktabbruch angefangen“, sagt die Familientherapeutin. „Bis es zu diesem Punkt kommt, hat schon sehr viel nicht funktioniert.“ Die erwachsenen Kinder seien überzeugt, alles versucht zu haben. „Irgendwann fühlen sich die Kinder so bedrängt, ausgeliefert oder ohnmächtig, dass sie den Bruch mit den Eltern als letzte Möglichkeit sehen, um leben zu können.“ Im ersten Moment sei das Kontaktende für sie deshalb eine echte Befreiung. „Die Kinder geben sozusagen ihr Bemühen auf, noch etwas mit den Eltern zu klären – die wiederum hätten aber nach dem Abbruch das erste Mal riesigen Klärungsbedarf.“

Eltern verstehen ihr Kind falsch und erkennen die Tragik nicht

Warum es dazu kommt, dass Eltern und Kinder so lange aneinander vorbeireden, dafür gibt es vor allem einen Grund. „Es klafft eine richtige Lücke in der Kommunikation“, sagt Jendrich. „Es gibt einfach Menschen, die wenig kommunizieren und nicht über Gefühle sprechen. Das schauen sich die Kinder ab.“ Die Eltern gingen dann davon aus, es sei alles gut, wenn das Kind wenig oder nichts sage. „Häufig aber kommt auch das, was gesagt wird, beim andern einfach nicht richtig an. Dann äußert das Kind mehr oder weniger klar ein Bedürfnis und die Eltern hören etwas anderes oder verstehen die Dramatik nicht.“ Schon in der Pubertät sei es für Eltern schwierig, einzuschätzen, ob ihr Kind gerade eine typische Phase habe oder eine echte existenzielle Krise.

Auf der anderen Seite interpretierten auch die Kinder Aussagen der Eltern oft anders als es gemeint gewesen sei. „In der Beratung erzählte mir zum Beispiel eine Tochter, sie habe den Führerschein machen wollen und ihre Mutter habe gesagt, das sei zu früh. Die Tochter verstand in der Aussage, dass die Mutter ihr das noch nicht zutraut.“ Statt ihr das aber zurückzumelden, habe die Tochter geschwiegen. „Die Mutter wusste nicht, was die Tochter empfindet, aus ihrer Sicht gab es kein Problem. Sie hielt den Führerschein wirklich für zu früh.“ Würden solche Dinge lange nicht besprochen und wiederholten sich, dann käme es zu einer Art Verstärkung. „Die Tochter achtet dann immer mehr auf Aussagen ihrer Mutter, die ihre Interpretation bestätigen, dass sie ihr nichts zutraut.“

Manchmal finden Eltern und Kinder nicht mehr zueinander

In der Beratung nach einem Kontaktabbruch gehe es deshalb immer darum, sich auf die Perspektive des anderen einzulassen. „Ich spiegele den Eltern, wie ihr Gesagtes beim Kind ankommen könnte.“ Dass sich ein Satz wie „Zieh dir doch eine Jacke an“ für ein erwachsenes Kind wie eine Bevormundung anfühlen könnte, daran dächten Eltern oft nicht. „Sie wollen nicht selten Fürsorge vermitteln, die vom Kind aber gar nicht mehr gebraucht wird.“ Häufig gehe es auch um klassische Doppelbotschaften. Die Mutter sage etwa das eine und reagiere dann doch anders.

In manchen Familien gelingt es, nach einem Bruch wieder aufeinander zuzugehen. „Bei etwa einem Drittel der Familien wird der Kontakt in sehr brüchiger Form wieder aufgenommen, auch wenn es ein zartes Pflänzchen ist“, berichtet Christiane Jendrich. In vielen Fällen bleibe es aber auch bei der Stille. „Ich hatte einen alten Vater in der Beratung, der vor seinem Tod noch Dinge mit seiner Tochter klären wollte. Doch sie lehnte ab, für sie war er schon tot.“ Er habe dann einen Brief an sie hinterlassen und für sich seinen Frieden gemacht.

Kontaktabbruch ist keine echte Lösung – die Hoffnung bleibt

Manchmal kann ein anhaltender Bruch zur Dauerbelastung werden. „Einige Eltern zeigen depressive Verhaltensweisen oder flüchten in ihre Arbeit“, erzählt Jendrich. „Es kommt darauf an, welche Bedeutung der Kontaktabbruch in ihrem Leben einnimmt. Und wie viel Macht sie den verlassenden Kindern geben wollen.“ Für die Eltern gehe es dann darum, zu schauen, wer sie denn abseits ihrer Elternrolle noch sind. Auf der anderen Seite habe ein solcher Kontaktabbruch auch Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem. „Besonders schwierig ist es, wenn nur zu einem der beiden Elternteile die Verbindung gekappt wird. Das bringt ein Machtgefälle und besonderen Sprengstoff in die Partnerschaft der Eltern.“

Weder für das Kind noch für die Eltern ist ein Kontaktabbruch aber eine echte Lösung. „Das Thema bleibt ja unabgeschlossen und endet erst mit dem Tod. Wenn die Situation nicht zu klären ist, bleibt es eine Blackbox.“ Manche arrangierten sich gut damit, manche litten ihr Leben lang darunter. „Die Hoffnung aber bleibt immer. Denn Eltern bleiben ihr Leben lang Eltern.“

Buchtipp: Christiane Jendrich: „Funkstille – Systemisch arbeiten in Familien mit Kontaktabbrüchen“, V&R Verlag, 151 Seiten, 25 Euro

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