Angehörige von psychisch Kranken„Sie haben das Recht, sich zu distanzieren – müssen Sie sogar“

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Mittelalter Mann schaut einen traurigen Jugendlichen an.

Wenn ein nahestehender Mensch Hilfe braucht, ist das oft eine große Herausforderung (Symbolbild).

Der Kölner Verein Rat und Tat e.V. bietet Gesprächskreise und Hilfe für Angehörige von psychisch erkrankten Personen an. Zwei betroffene Väter erzählen, wie sehr ihnen das geholfen hat.

Wer mit einem psychisch erkrankten Menschen zusammen lebt, hat es nicht leicht. Neben all den Sorgen und Problemen sind da auch viel Druck, Verantwortung und manchmal auch ein Gefühl von Schuld, vor allem wenn es sich bei den Erkrankten um die eigenen Kinder handelt. Es tut gut, mit anderen Betroffenen über diese Nöte sprechen zu können. 

Tobias Jahn (Name geändert) hat drei Kinder. Eine Tochter von ihm ist alkoholabhängig, leidet an Depressionen und hat eine Borderline-Diagnose. Das bedeutet unter anderem, dass Betroffene zwischen extremen Gefühlen hin und her schwanken, zugleich Angst vor Nähe und dem Verlassen werden haben, oft sehr impulsiv sind, stets unter Spannung stehen und sich manchmal selbst verletzen. Dass ihre Tochter Borderline hat, erfahren Jahn und seine Frau erst spät. Als Erstes kommt die Alkoholsucht ans Licht, weil sie sich selbstständig in eine Entzugsklinik begibt. „Zu dem Zeitpunkt wohnte sie schon nicht mehr bei uns und steckte mitten in der Ausbildung. Wir hatten nichts von der Alkoholabhängigkeit mitbekommen, das wusste sie gut zu verbergen“, erinnert er sich. Und weiter: „Ich war mir sicher, dass hinter der Abhängigkeit etwas anderes stecken muss. Bis klar war, dass es Borderline ist, hat es aber noch fast ein Jahr gedauert. Das war eine große Erleichterung, weil wir so ihr Verhalten besser einordnen konnten.“

Tochter taucht in fremden Städten auf

Peter Wagners (Name geändert) Tochter leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Als Baby schreit sie sehr viel und schläft schlecht. Die Grundschulzeit verläuft normal, auf der weiterführenden Schule wird sie von den Mitschülern gemobbt und von den Lehrern nicht ernst genommen. Mit 16 versucht sie zum ersten Mal, sich umzubringen. Sie kommt zunächst ins Krankenhaus, dann in die Jugendpsychiatrie und geht ein Jahr lang nicht in die Schule. In der elften Klasse wiederholt sich das Ganze noch einmal. Sie fängt sich wieder, zieht in eine Wohngemeinschaft, macht Abitur und beginnt zu studieren. Die Schizophrenie bricht bei ihr zum ersten Mal richtig durch, als sie 23 ist: Völlig desorientiert geistert sie nachts im Nachthemd durch das Mietshaus, in dem sie damals wohnt. „Wir konnten uns das nicht erklären, wir hatten ja vorher nie damit zu tun gehabt“, erinnert sich der Vater. Die Tochter wird erneut in eine Klinik aufgenommen, bekommt eine gesetzliche Betreuung, lebt eine Weile ohne Zwischenfälle, erleidet einen Rückfall und kommt erneut in eine Klinik. So geht es immer weiter, bis sie das Studium abbrechen muss und ihre Beziehung endet. Zu den schlimmsten Erlebnissen, an die sich ihr Vater erinnert, gehören die Tage und Nächte, an denen sie völlig hilflos in fremden Städten aufgefunden wird und nicht weiß, wie sie dahin gekommen ist.

Angehörige können alle sein

Beide Männer finden Unterstützung bei Rat und Tat e.V., einer Hilfsgemeinschaft für die Angehörigen von psychisch Kranken. Betroffene helfen hier in Gesprächskreisen und Beratungen (genauere Informationen finden Sie unten) ehrenamtlich anderen Betroffenen dabei, mit ihren Sorgen umzugehen und Lösungen zu finden. Oft hilft es bereits, sich mit Menschen auszutauschen, die die gleichen Probleme haben. Die Mitglieder kennen aber auch viele praktische Hilfen, mit denen Angehörige entlastet werden können. Ein Besuch durch einen sogenannten aufsuchenden Dienst kann eine erste Orientierung und Hilfe bieten, wenn Familienmitglieder und Freunde sich Sorgen machen. Wichtig zu wissen ist ebenfalls, dass man den Notarzt rufen kann, wenn jemand sich selbst oder andere gefährdet. Es ist auch möglich, eine gesetzliche Betreuung für eine erkrankte Person zu beantragen, die den Angehörigen viele bürokratische oder finanzielle Aufgaben abnehmen kann, unter bestimmten Umständen sogar gegen den Willen des Kranken. Außerdem existiert ein psychiatrischer Pflegedienst, der Patienten regelmäßig zu Hause besucht. Der Vereinsvorsitzende Rolf Fischer betont ausdrücklich, dass auch Freunde, Nachbarn und Bekannte von Erkrankten bei Rat und Tat e.V. willkommen sind. Er sagt: „In dem Moment, in dem man sich um einen psychisch kranken Menschen kümmert, wird man zum Angehörigen. Deshalb fassen wir den Begriff sehr weit.“

Das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz finden

Tobias Jahn hat in den Gesprächen mit anderen Betroffenen erkannt, dass er mit seinen Problemen nicht alleine ist. Er fühlt sich zwar nicht verantwortlich für die Erkrankung seiner Tochter, konnte ihre Borderline-Diagnose aber dennoch nicht von Anfang an annehmen. Dank der vielen Gespräche ist ihm das gelungen, sodass er jetzt ausgeglichener ist. Das ist sehr wichtig, denn für Angehörige von psychisch Kranken ist es meist schwierig, das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu finden. Jahn sagt deshalb ganz klar: „Als Angehöriger haben Sie das Recht, sich von bestimmten Dingen zu distanzieren und sich aus schwierigen Situationen herauszuziehen. Das dürfen Sie und das müssen Sie auch, um sich selbst, die restliche Familie und das Umfeld zu schützen.“ Peter Wagner hat sich durch das Reden mit anderen vom Schuldgefühl gegenüber seiner Tochter befreit. Mithilfe des Vereins hat er zudem praktische Entlastungen wie die gesetzliche Betreuung für seine Tochter bekommen, die ihm und seiner Frau dabei helfen, bei allem Verantwortungsgefühl auch mal wieder an sich zu denken.

„Über eine psychische Erkrankung kann man genauso sprechen wie über eine Blinddarmentzündung“

Rat und Tat e.V. setzt sich sehr dafür ein, die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen zu beenden. „Über eine psychische Erkrankung kann man genauso sprechen wie über eine Blinddarmentzündung. Da hat auch keiner ein Problem damit, das zu erzählen“, sagt der Vorsitzende Rolf Fischer. Die Gesellschaft mag zwar in den vergangenen Jahren offener für den Umgang mit psychischen Erkrankungen geworden sein, richtig akzeptiert sind sie aber noch nicht – zumindest nicht alle.„Eine Depression ist heutzutage so gut wie gesellschaftsfähig. Wenn es aber zum Beispiel um paranoide Schizophrenie oder Borderline geht, sind die Reaktionen anders. Diese Erkrankungen sind deutlich weniger anerkannt, hier gibt es immer noch großes Unwissen und Vorurteile“, hat Jahn festgestellt. Umso wichtiger, dass sich der Verein dafür einsetzt, psychische Erkrankungen aus der Isolation zu holen.

Das bietet der Verein Rat und Tat e.V.

In Sülz, Rodenkirchen, Mülheim, Ehrenfeld, Porz und Nippes finden regelmäßig Gesprächskreise statt. Die genauen Termine finden Sie auf der Homepage www.ratundtat-ev.koeln. Online-Treffen sind nach Absprache ebenfalls möglich, telefonisch kann man sich unter 0221/7390734 beraten lassen. Für Kinder und Jugendliche mit psychisch kranken Eltern gibt es dienstags zwischen 16 und 17 Uhr eine persönliche Beratung unter dieser Nummer. Die Zeiten finden Sie ebenfalls auf der Seite www.ratundtat-ev-koeln. In der Geschäftsstelle in Nippes (Kempener Str. 135) werden außerdem kostenlose persönliche Beratungen angeboten. Für einen Termin melden Sie sich bitte von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 11 Uhr bis 13 Uhr im Büro unter der Nummer 0221/9139401 oder per Mail unter info@rat-und-tat-koeln.de.

Zum Weiterlesen: Klaus Dörner/Albrecht Egetmeyer/Konstanze Koenning: Freispruch der Familie. Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last freisprechen, Balance Buch- und Medienverlag, 230 Seiten, 20 Euro

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