Einige Menschen überfordert die Reizüberflutung im Alltag. Doch ihre Partner können das nicht immer nachvollziehen.
In Sachen LiebeZu laut, zu viel – Reizüberflutung? So erkläre ich das meinem Partner

Wenn alles zu viel wird, brauchen neurodivergente Menschen manchmal eine Pause.
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„Ich bin – wie man heute sagt – neurodivergent: In vielen Alltagssituationen erlebe ich eine massive Reizüberflutung. Laute Umgebungen, viele gleichzeitige Aufgaben oder unerwartete Veränderungen überfordern mich. In solchen Momenten fühle ich mich schnell hilflos oder ziehe mich zurück. Mein Partner versteht nicht, warum ich so reagiere, und empfindet mein Verhalten dann als übertrieben und reagiert verletzt. Wie kann ich ihm verständlich erklären, was Reizüberflutung für mich bedeutet? Und wie können wir gemeinsam Wege finden, im Alltag besser mit unseren Unterschieden umzugehen?“ (Nina, 33 Jahre)
Ihr Partner und Sie besuchen ein Restaurant, gehen auf ein nettes Familientreffen, stehen im vollen Supermarkt. Für ihn unproblematische Situationen, Sie hingegen stehen in einem inneren Sturm: Worte und Geräusche prasseln auf Sie ein. Jede Bewegung, jedes Gespräch, jeder Lichtstrahl ist für Sie doppelt so laut, zu grell, zu viel. Sie möchten fliehen, vielleicht weinen, vielleicht schreien – und Sie fühlen sich obendrein schwach, hilflos, schuldig.
Möglicherweise läuft eine der genannten Situationen für Sie so oder so ähnlich ab. Neurodivergent zu sein bedeutet oft, die Welt intensiver wahrzunehmen, ob mit ADHS, Autismus oder einer anderen Form neurologischer Besonderheit. Dadurch kommt es schnell zu Überforderungen. Und in einer Partnerschaft kann es schmerzhaft sein, wenn das, was für Sie überwältigend ist, für den anderen kaum spürbar und unverständlich ist. Doch es ist möglich, aus der Hilflosigkeit herauszutreten, sich selbst besser zu verstehen und Ihrem Partner zu erklären, was in Ihnen vorgeht.
1. Verantwortung anerkennen, ohne sich zu verurteilen
Reizüberflutung ist eine Reaktion Ihres Nervensystems, die Sie nicht einfach „abschalten“ können. Sie dürfen anerkennen: „Ja, ich bin gerade überfordert.“ Diese Verantwortung ist kein Eingeständnis des Versagens, sondern der erste Schritt zur Selbstfürsorge. Denn nur wenn Sie Ihre Grenzen respektieren, können Sie lernen, diese auch klar zu kommunizieren.
2. Ihrem Partner die innere Welt zeigen
Viele Partner verstehen Reizüberflutung nicht, weil sie diese nie selbst erlebt haben. Es kann helfen, Ihr Erleben so konkret wie möglich zu beschreiben, zum Beispiel so:
„Wenn wir im Supermarkt sind, fühlt es sich an, als würde mein Kopf gleichzeitig fünf Radiosender empfangen. Ich kann dann keine Entscheidungen mehr treffen, weil alles zu viel ist.“ - „Wenn wir bei deiner Familie sind, brauche ich zwischendurch eine Pause. Es liegt nicht an ihnen, ich brauche einfach Ruhe, um mich wieder zu sortieren.“ Machen Sie deutlich, dass es nicht an Ihrem Partner liegt: „Das hat nichts mit dir oder den Menschen um uns herum zu tun. Es ist einfach mein Nervensystem, das in solchen Momenten überfordert ist.“ Damit verhindern Sie Missverständnisse und Schuldgefühle auf beiden Seiten.Bücher und Podcasts zum Thema Neurodivergenz können hilfreiche Informationen vermitteln, das gemeinsame Lesen/Hören kann gegenseitiges Verständnis unterstützen.
3. Bedürfnisse klar formulieren und Lösungswege finden
In Partnerschaften, in denen einer der Partner neurodivers ist, treffen oft sehr unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander, beispielsweise der Wunsch nach Rückzug und Ruhe auf der einen Seite und das Bedürfnis nach Nähe und Austausch auf der anderen. Um Missverständnisse und Konflikte zu vermeiden, ist es hilfreich, die eigenen Bedürfnisse klar zu formulieren. Sie können Ihrem Partner erklären, was Sie brauchen, um sich sicher zu fühlen, und wie er Sie unterstützen kann. Genauso wichtig ist es, auch die Bedürfnisse des Partners wahrzunehmen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die beiden gerecht werden. Besprechen Sie, was in herausfordernden Situationen helfen könnte. Das kann bedeuten, bestimmte Signale zu vereinbaren, einen ruhigen Rückzugsort zu schaffen oder bewusste Pausen in Gesprächen oder bei Aktivitäten einzuplanen. Solche Absprachen helfen, Druck aus schwierigen Situationen zu nehmen, und sie zeigen, dass beide Partner Verantwortung für das Gelingen der Beziehung übernehmen.
4. Unterstützung von außen
Manchmal reicht der Austausch in der Partnerschaft nicht aus. Professionelle Hilfe kann ergänzend wirken: Therapie oder Coaching, um besser mit Reizüberflutung umzugehen; Selbsthilfegruppen, um sich mit anderen auszutauschen; Paarberatung, um das Erleben zu übersetzen, die unterschiedlichen Bedürfnisse zu verstehen und gemeinsam Strategien zu entwickeln.
5. Die Perspektive verändern
Ein Perspektivwechsel ist oft sehr heilsam: Sie sind nicht „zu empfindlich“, Sie sind feinfühliger als viele andere. Diese Sensibilität bringt Herausforderungen, aber auch Stärken mit sich: zum Beispiel tiefere Empathie, differenzierte Wahrnehmung, ein ausgeprägtes Gespür für Stimmungen und Details.
Wenn Sie diese Eigenschaften nicht als Defizit, sondern als Teil Ihrer eigenen Persönlichkeit begreifen, verändert das auch Ihre innere Haltung und ermöglicht Ihrem Partner, Ihr Erleben nicht als „Problem“, sondern als etwas Wertvolles zu sehen, das Sie beide verstehen lernen können.
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