„Mama, ich bin schwul“Was Riccardo Simonettis Coming-out für seine Familie bedeutete

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Riccardo Simonetti und seine Mutter Anna. 

Köln – Riccardo Simonetti gehört mittlerweile zu den bekanntesten Entertainern und Werbegesichtern in Deutschland. Das liegt mit Sicherheit an seiner sehr charmanten Art, aber bestimmt auch an seinem besonderen Aussehen. Er trägt lange Haare, oft Make-up, einen Bart, meist Glitzerklamotten und lebt offen homosexuell. Das alles scheint ganz natürlich, aber der Weg dahin war nicht leicht. Gemeinsam mit seiner Mutter Anna hat er das sehr persönliche Buch „Mama, ich bin schwul“ geschrieben, in dem beide abwechselnd darüber erzählen, was sein Outing für die Familie bedeutete und wie schwer sich beide damit getan haben.

„Nicht der Junge, der auf Bäume klettert und sich einen Bagger wünscht“

Riccardo Simonetti kommt 1993 in Bad Reichenhall zur Welt. Seine Eltern sind Italiener und betreiben eine Eisdiele. Sie trennen sich, als Riccardo acht Jahre alt ist und fortan lebt er mit seiner Schwester und seiner Mutter zusammen. Seine Mutter schreibt, dass er schon als kleiner Junge anders war und dass sie das oft störte: „Selbstbewusst dazu stehen, dass er eben nicht der Junge ist, der auf Bäume klettert und sich zu Weihnachten einen Schaufelbagger wünscht, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.“ Riccardo beschreibt sich selbst als Kind, das seine Mutter über alles liebt und ständig Angst hat, sie zu verlieren. Schon früh spürt auch er, dass er andere Interessen hat. Weil er im Kindergarten gern mit Barbies spielt, wird er von den meisten Jungen ausgegrenzt und verspottet. Weil er viel besser mit Mädchen zurechtkommt, wünscht er sich irgendwann, selbst ein Mädchen zu sein. „Aber nur deshalb, weil es Jungen nicht erlaubt war, mit derselben Leidenschaft mit Puppen zu spielen, wie sie über Fußball sprachen.“

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Riccardo und Anna Simonetti: Mama, ich bin schwul. Was mein Coming-out für uns bedeutete, Goldmann-Verlag, 301 Seiten, 12 Euro

Riccardo Simonetti hat Angst, dass seine Mutter ihn nicht mehr liebt

Riccardo macht sich Sorgen, dass sich seine Mutter von ihm abwendet, weil er nicht der klassischen Vorstellung eines kleinen Jungen entspricht. „Damals lernte ich, dass ich verstecken muss, was ich mag. Ich fürchtete mich davor, dass meine Mama mich irgendwann nicht mehr lieben könnte.“ Tatsächlich versucht Anna Simonetti anfangs oft, ihm seine Wünsche auszureden – eine eigene Barbie, glitzernde Klamotten – weil sie meint, dass gehöre sich nicht für einen Jungen oder er bekomme dadurch Probleme. Im Nachhinein schämt sie sich sehr dafür: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich nach außen hin schon geschämt, dass er mit Puppen spielt – vor allem dann, wenn ich mich vor anderen Müttern dafür rechtfertigen musste. Auch wenn seine femininen Züge rauskamen, haben wir manchmal am Esstisch Witze über ihn gemacht oder es als weibliches Getue belächelt.“ Sie gibt auch zu, dass sie unbewusst noch lange den Wunsch hatte, ihr Sohn möge sich genau wie sie für Fußball und Formel 1 begeistern. Der Zwiespalt zwischen seinen eigenen Bedürfnissen und dem Wunsch, seiner Mutter zu gefallen, führt bei Riccardo zu einer Art Überkompensation: „Ich beschloss, dass ich meiner Mama zeigen würde, dass ich zwar nicht der Junge sein konnte, den sie ursprünglich mal wollte, aber dass ich dafür so vieles besser machen konnte als dieser Fantasiejunge. Ich würde der Beste werden in allem, was ich tat.“

„Es verging kein Tag, an dem ich nicht beschimpft wurde.“

Je älter Riccardo wird, desto mehr versucht er, sich gegen die Anfeindungen zu stellen und er selbst zu sein, indem er zum Beispiel auch in der Schule das anzieht, worauf er wirklich Lust hat. Das führt erwartungsgemäß zu Gegenwind an seinem konservativen Gymnasium: „Es verging kein einziger Tag, an dem ich nicht beschimpft oder sogar bedroht wurde.“ Er plagt sich mit Selbstmordgedanken und entwickelt zeitweise eine Essstörung. Eine Weile glaubt er, transsexuell zu sein, weil er sich so sehr wie ein Mädchen fühlt. Dass er schwul sein könnte, wird ihm erst viel später klar: „Ich glaubte, ich sei nicht schwul, weil ich nicht wusste, was es bedeutete. Mir fehlten einfach die Vorbilder“.

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Riccardo Simonetti mit seiner Mutter und seiner Oma Francesca. 

Unsicherheit wurde zu Stolz auf diesen außergewöhnlichen Jungen

Erst mit 16 sprechen er und seine Mutter offen darüber. Er sagt: „Ich möchte mich irgendwann in einen Menschen verlieben und ich kann noch nicht sagen, ob das ein Mann oder eine Frau sein wird. Aber wenn es soweit ist, musst du aufhören, mir einzureden, dass ich jemand sein soll, der ich nicht bin.“ Dieses Gespräch ist für beide der Wendepunkt. Riccardo versteht, dass er zu seinen Bedürfnissen stehen muss und seine Mutter begreift, dass sie ihren Sohn lange in eine andere Richtung lenken wollte, weil sie in den Anforderungen der Gesellschaft gefangen war. Ihr wird klar: „Wenn ich meinem Sohn helfen wollte, musste ich zuerst bei mir selbst anfangen. Ich musste hundert Prozent hinter ihm stehen, ihn unterstützen und beschützen, ihn so sein lassen, wie er ist, ihn annehmen und nicht einen anderen aus ihm machen wollen. Nur fiel es mir anfangs noch schwer, mich von den äußeren Einflüssen freizumachen und mich wirklich auf ihn einzulassen, egal, was andere sagen oder denken. Doch irgendwann wandelte sich meine Unsicherheit in Stolz, so einen außergewöhnlichen Jungen zu haben.“

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Wo der Weg beruflich hingehen soll, ist für Riccardo schon früh klar. Er will unbedingt berühmt werden und sucht Bestätigung auf der Bühne. „So unsicher ich in meiner sexuellen Entwicklung war, so selbstsicher war ich jedoch, wenn es um meine Karriere ging. Ich wusste, dass ich dazu bestimmt war, Menschen zu unterhalten.“ Nach dem Abitur zieht er nach München und macht seine ersten homosexuellen Erfahrungen. Dieser Moment ist für ihn wie eine Erleuchtung und er will jedem davon erzählen – natürlich auch seiner Mutter. „Dass er in diesem Augenblick zuerst an mich dachte, fand ich schön, denn er wusste nun, dass er mir vollkommen vertrauen konnte und nichts vor mir verheimlichen musste. Dennoch war ich erleichtert, dass er nicht allzu sehr ins Detail ging, denn damit hätte ich nicht wirklich umzugehen gewusst.“

Plötzlich reagieren die Menschen auf der Straße positiv auf ihn

Riccardo beginnt ein Praktikum beim Sender „E! Entertainment“ und bekommt bald eine eigene Sendung. Irgendwann erkennen ihn die Menschen. „Es war wie bei mir zuhause, nur dass die Menschen, die mich jetzt auf der Straße anhielten, positiv auf mich reagierten. Bis heute ist das für mich etwas Besonderes, weil ich nie vergessen werde, dass draußen angesprochen zu werden in meinem Leben lange etwas völlig anderes bedeutete.“ Mit 21 Jahren zieht er nach Berlin. „In dieser Zeit begriff ich, dass schwul zu sein nicht nur in Ordnung ist, sondern etwas wirklich Wundervolles. Ich verspürte zum ersten Mal eine richtige Zugehörigkeit zu der LGBTQIA*-Community und war stolz darauf.“ Trotzdem gibt es auch im offenen Berlin noch Anfeindungen. Nicht immer erzählt er seiner Mutter davon, weil sie sich große Sorgen um ihn macht.

Angst vor der Reaktion seiner italienischen Oma

Mit der Zeit legen sich diese Ängste. Riccardo ist fest in seine Clique eingebunden und findet einen festen Partner. Irgendwann outet er sich öffentlich in der „Bunte“ und sorgt sich um die Reaktion seiner Oma in Italien. „Ich fürchtete, sie hätte etwas sagen können, das mich verletzt. Ich liebe meine Oma und ich möchte nicht sauer auf sie sein.“ Die schweigt zunächst und sagt dann: „Er ist mein Enkel und das macht für mich keinen Unterschied.“

Hinter Riccardo Simonetti liegen harte Kinder- und Jugendjahre. Er hat lange mit seiner Identität gerungen, konnte sich selbst nicht annehmen und wurde oft angefeindet. Heute ist er stolz darauf, schwul zu sein. Auch seine Mutter, die ihren Sohn lange Zeit anders haben wollte, als er ist, ist mittlerweile mit sich im Reinen. Sie sagt: „Wie sehr ich mich persönlich durch meinen Sohn weiterentwickelt habe, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich bin gemeinsam mit ihm erwachsen geworden und habe mich von ihm mit erziehen lassen. Riccardo war immer so viel mutiger als ich. Während ich ein halbes Leben dazu brauchte, es zu lernen, hat er schon als Teenager zu sich und seinem Weg gefunden. Dadurch ist auch mein Selbstbewusstsein gewachsen. Und ich bin zu der Mama geworden, die ich immer sein wollte.“

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