Erdrückt von InformationenWie wir uns vor digitaler Vermüllung retten können

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Wir müssen immer mehr Informationen verarbeiten. 

Wir müssen immer mehr Informationen verarbeiten. 

  • Die Digitalisierung überfordert uns, sagt die Kölner Neurowissenschaftlerin Maren Urner.
  • Vor allem die Flut der negativen Informationen stresst uns – und unser Gehirn.
  • Maren Urner verrät, wie wir das ändern können.

Frau Urner, Sie sprechen mit Ihrem Buch allen Menschen aus der Seele, für die heute die Welt angesichts der Nachrichten komplexer und vor allem schlechter geworden zu sein scheint. Für Sie ist der Eindruck ein eklatanter Trugschluss. Wieso?

Es ging der Menschheit nie besser als heute. Was nicht bedeutet, dass es keine Probleme gibt. Aber man muss die großen und positiven Entwicklungen anerkennen, zum Beispiel, dass weltweit die Kindersterblichkeit zurückgegangen und die Lebenserwartung gestiegen ist. Oder dass die Zahl der Analphabeten weiter sinkt. Das sind wichtige und relevante Trends, die aber kaum wahrgenommen werden.

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Neurowissenschaftlerin  Maren Urner

Wieso nicht?

Weil es langfristige, langsame Entwicklungen sind, die bei den vielen Schreckensmeldungen einfach untergehen – oder es erst gar nicht in die Schlagzeilen schaffen. Der Fokus bei der medialen Berichterstattung, und das ist auch empirisch erwiesen, liegt seit jeher auf dem Negativen. Es verkauft sich einfach besser. Allerdings wird diese Verschiebung immer stärker. Das zeigen Langzeitdaten aus 130 Ländern.

Digitaler Säbelzahntiger

Wie erklären Sie als Neurowissenschaftlerin dass Phänomen, dass negative Nachrichten mehr Aufmerksamkeit erregen als positive?

Es hat evolutionsbiologische Gründe. Unser Hirn funktioniert im Großen und Ganzen noch so wie in der Steinzeit. Das heißt, wir reagieren auf negative Nachrichten wie auf einen Säbelzahntiger, der damals vor der Höhle stand. Das Hirn signalisiert Gefahr und bereitet den Körper auf Flucht oder Kampf vor. Dieser Mechanismus ist überlebenswichtig und wird natürlich auch heute noch gebraucht.

Und dieser Mechanismus wird heute überstrapaziert?

Genau, weil der „digitale Säbelzahntiger“ uns in Form schlechter Nachrichten fast pausenlos konfrontiert. Selbst dann, wenn wir ihn nicht suchen, zum Beispiel auf den Bildschirmen an der U-Bahnhaltestelle, durch Push-Nachrichten auf dem Smartphone, als Überschriften auf Websites. Die Digitalisierung hält immer und überall Informationen bereit, die es auf unsere Aufmerksamkeit abgesehen haben. Aus dem akuten Stress wird chronischer Stress. Damit sind wir total überfordert.

Sie berichten davon, dass sogar Nachrichten über Anschläge mehr Stress auslösen können, als wenn man selbst dabei gewesen wäre.

Ich beziehe mich da unter anderem auf eine Studie aus den USA: Nach dem Anschlag beim Boston-Marathon 2013 wurde die Auswirkung des Ereignisses sowohl bei den Menschen, die dabei waren, als auch bei denen, die nur aus den Medien davon erfahren hatten, untersucht. Letztere Gruppe war in der Tat gestresster und hatte größere Probleme, den Anschlag zu verarbeiten.

Negative Nachrichten verändern unser Gehirn

Dieser Fokus auf das Negative verändert die Hirnstruktur. Was haben Sie darüber herausgefunden?

In meiner Doktorarbeit habe ich eine wechselseitige Wirkung von unserer Hirnaktivität und unserer Wahrnehmung von Neuem beobachtet. Auf den Medienkonsum übertragen heißt das: Wenn wir mehr Negatives lesen, dann verändert sich die Funktionalität unseres Gehirns und wir erwarten Negatives. Wir bewerten schließlich alle neuen Dinge so, dass sie in dieses verzerrte Weltbild passen. Das kann zu völlig irrationalen Ängsten und unrealistischen Risikoeinschätzungen führen. Und eben auch zu dem eingangs erwähnten Eindruck, dass die Welt viel schlechter geworden ist.

Sie warnen davor, dass sich dieser ständige Alarmismus auch auf unsere Gesundheit auswirken kann.

Chronischer Stress begünstigt sämtliche Zivilisationskrankheiten und kann natürlich auch Folgen für die Psyche haben. Dieses Dauerbombardement von schlechten Nachrichten kann Menschen in einen Zustand der erlernten Hilflosigkeit versetzen. Sie kapitulieren und ziehen sich ins Private zurück. Sie lesen, hören oder gucken dann einfach nichts mehr. Oder nur noch das, was ihnen guttut.

„Wir haben noch nicht gelernt, mit der Digitalsierung umzugehen“

Das ist verständlich und legitim.

Auf jeden Fall. Es ist ein Schutzmechanismus, aber keine Lösung. Vor allem ist das eben nicht mehr die Wirkung, die man als Journalist eigentlich erreichen will: die Informierten zu bemächtigen, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen.

Viele Menschen nehmen im öffentlichen Diskurs neben der Hilflosigkeit eine wachsende Aggression und Polarisierung wahr. Könnten diese Tendenzen ebenfalls eine Folge der Überforderung sein?

Ich tue mich schwer, so einfach eine Kausalität herzustellen. Aber es ist auffällig, dass diese Phänomene alle gleichzeitig zu beobachten sind, also zumindest miteinander korrelieren. Für mich ist jedenfalls klar, dass wir alle, die Gesellschaft und jeder Einzelne, noch nicht gelernt haben, mit der Digitalisierung und dem Informationszugang so umzugehen, dass sie uns primär nutzen und weiterbringen.

Reicht diese Erkenntnis denn aus, damit wir dies ändern können?

Sie ist der erste Schritt! Ich zitiere gerne den Mitbegründer der modernen Psychologie William James. „Unser Leben ist nichts anderes als das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.“ Ein Mensch kann sich dessen bewusst werden. Das heißt nicht, dass alle Ängste verschwinden oder wir unser Weltbild nicht mehr gerne bestätigt sehen. Aber ich kann diese Neigungen kritisch hinterfragen. So bleibe ich offen und konstruktiv. Und wir müssen konstruktiv bleiben, weil wir vor immensen gesellschaftlichen Herausforderungen stehen – allen voran der menschgemachte Klimawandel und seine Folgen für unseren Lebensalltag. Kein Problem der Welt wird dadurch gelöst, dass wir resignieren oder Journalisten aufhören, darüber zu berichten. Letztere sollten es nur häufiger konstruktiv tun.

Jeder muss sich fragen, was der Medienkonsum mit einem macht

Konstruktiv gefragt: Was bedeuten Ihre Erkenntnisse für jeden einzelnen Medienkonsumenten? Liegt das Heil in der Beschränkung?

Es liegt in der Auswahl. Erst mal muss jeder einen Schritt zurücktreten und sich fragen, was der Medienkonsum mit einem macht. Wie verändert er mein Denken, Handeln und Wohlbefinden? Was will ich eigentlich? Dann muss ich mich fragen, wie ich es schaffe, gut informiert zu bleiben. Ich möchte nicht jeden Tag aufs Neue darüber nachdenken, wie ich das hinkriege. Das heißt, ich muss daraus eine Gewohnheit machen wie aus dem Zähneputzen. Das kann für jeden anders aussehen: Die einen lesen Zeitung oder hören Radio. Andere bevorzugen Online-Videos oder Satire-Magazine. Die Dosierung und die Qualität machen den Unterschied. Denn es gibt da draußen ganz viel guten Journalismus, der nicht nur über Probleme, sondern auch konstruktiv berichtet. Und das ist wichtig, um handlungsfähig zu bleiben.

Das alles setzt einen gewissen Anspruch voraus, nämlich sich überhaupt einbringen zu wollen. Sehen Sie die Bereitschaft dazu?

Ja. Aber es fällt vielen schwer, denn sie müssen sich fragen, wie viel Zeit ihnen im Alltag bleibt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Neben Arbeit, Familie, Freundschaftspflege, Sport, essen und schlafen. Deshalb plädiere ich dafür, eine Informations-Routine oder Medienhygiene einzuführen, die sich abarbeiten lässt. Aber die Bereitschaft, einmal darüber nachzudenken, ist natürlich unumstößlich. Auch wenn es anstrengend ist.

Aber wie viel ist denn genug? Viele Menschen haben Angst, etwas zu verpassen und prüfen deshalb unentwegt und zwischendurch Nachrichten, Mails und sonstige Infos.

Das ist eine Angst, die erst durch die Allgegenwärtigkeit der Information erzeugt wird. Wir haben schnell das Gefühl, nie fertig zu werden, nie wirklich „up to date“ zu sein. Das ist angesichts der Informationsfülle auch schlicht nicht möglich. Diese Angst erzeugt noch mehr Stress. Und die Angst davor, etwas zu verpassen, sorgt eher dafür, dass wir am Ende viel weniger wahrnehmen. Auch hier ist die Erkenntnis der erste Schritt.

Kann das Hirn wieder so einfach umstrukturiert werden?

Ja. Jederzeit und in jedem Alter. Wir müssen uns im Klaren sein, dass wir Informationen nicht nur schlechter verarbeiten, wenn wir im Sekundentakt abgelenkt werden. Die Konzentration lässt nach, senkt das Leistungsvermögen, der IQ sinkt temporär. Wir durchdringen nichts, schneiden nicht so gut ab, wie wir gerne möchten. Und das macht am Ende auch unzufrieden. Das sollten und können wir ändern. Ich betrachte es zumindest als Teil meiner Arbeit, die Menschen dazu zu ermuntern.

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