Blinder WiderstandWie wir lernen, nicht immer gleich an die Decke zu gehen

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Reaktanz Symbolbild

Lass die Luft raus: Wer die Reaktanz, also blinden Widerstand oder kölsch: 'nen dicken Hals, durchschaut, der lebt entspannter.

  • Reaktanz, oder auch blinder Widerstand, macht das Miteinander manchmal anstrengend, privat und auch im Job.
  • Doch wer die Abwehrmechanismen kennt, kann sie positiv umnutzen, erklärt die Kölner Buchautorin und Journalistin Carmen Thomas im Interview.

Ihr neues Buch handelt von einem neuen und zeitgleich steinalten Phänomen: der Reaktanz. Das klingt nach Physikunterricht, und löst in mir eine Bockigkeitsreaktion hervor, was der Begriff im Kern ja wohl meint. Hätten Sie eine sympathischere Beschreibung parat, immerhin sind Sie ja der festen Überzeugung, dass das Wissen darüber unsere Gesellschaft ein bisschen besser machen könnte.

Carmen Thomas: Oh ja, es gibt eine ganze Reihe von Beschreibungen: Wie wäre es mit „emotionaler Gänsehaut“, die ein Verhalten, eine irritierende Meinung eines Mitmenschen, oder eine ungewohnte Situation bescheren kann? Reaktanz bedeutet wörtlich übersetzt „Blindwiderstand“. Der kann wie eine Art „Rauchmelder“ vor Fremdem und Irritierendem warnen. Dann blockiert ein automatisches Dagegen-Schild. Blind meint, dass der Grund für die Bockigkeit im Unbewussten liegt. Auf Kölsch gesagt: Reaktanz ist, wenn isch ene dicke Hallls oder enen harten Bauch kreje.

Und was ist das Neue an diesem Phänomen, das offenbar schon die Neandertaler beschützte, wenn ihnen Fremdes begegnete? Ist es nicht eine urmenschliche Reaktion, ein instinktives Verhalten?

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Die Kölner TV- und Radio-Pionierin Carmen Thomas erfand 1974 die erste Mitmach-Sendung im deutschen Rundfunk „Hallo Ü-Wagen“ und war 20 Jahre lang deren Redaktionsleiterin und Moderatorin.

Genau, aber das Neue, Bedeutsame an dem Thema ist, dass es eine verändernde, gelassen und reifer machende Kraft auslösen kann. Reaktanz erlaubt, die innere Haltung zu verändern, sobald jemand bei sich selbst und bei anderen blinden Widerstand erkennen lernt. Dann lässt sich diese Bockigkeit inklusive der irrationalen Blockaden konstruktiv nutzen. Das kann gerade in Corona-Zeiten einen Beitrag dazu leisten, die ja nach allen Seiten um sich greifende „Dagegen"-Stimmung zu verändern, bis hin zu einem wertschätzenden, aggressionssenkenden Miteinander.

Das Neue an Ihrem Ansatz ist also, das Wissen um die Reaktanz positiv zu nutzen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Blindwiderstand bislang vor allem dazu diente, Menschen zu manipulieren...

… um Begehrlichkeiten zu wecken. In der Werbung geschieht es Tag ein Tag aus, dass Reaktanz aus diesem Grund künstlich erzeugt wird. Wenn eine Firma etwa den „Jetzt erst recht“-Effekt nutzt und mit Slogans wie: „Nur noch drei Stück auf Lager“ eine Knappheit suggeriert, kann das das Angebot begehrenswerter machen  und die so genannte Verknappungs-Reaktanz auslösen. Die Kundschaft denkt: Oh, das muss ich kaufen, bevor es nicht mehr zu haben ist – egal, ob man es braucht oder nicht, Hauptsache man fühlt sich nicht in seiner Wahlfreiheit bedroht. Es sind dabei aber auch andere reaktante Reaktionen möglich: Trotz etwa – mit folgender Abwertung: der der Ware oder der Ächtung der gesamten Firma.

Womit wir bei den Auslösern eines dicken Halses sind. Wie wichtig ist, die Wurzeln meiner Wut zu kennen, um meine Reaktion einschätzen und sie im besten Fall positiv umnutzen zu können?

Genau das ist zentral: diese Art von emotionaler Gänsehaut, das blockierende Gefühl schätzen zu lernen und zu durchschauen, dass es mechanisch entstehen kann, wenn Unerwartetes, Anordnendes, Neues passiert und etwa Versagensängste aktiviert werden. Oder wenn etwa Besseres als das Eigene geschieht. Da kann Neid-Reaktanz aufkommen. Etwas Fremdes kann das Frühwarnsystem triggern, etwas Irritierendes zu Verunsicherung führen. Jede Art von Vorschrift, Bevormundung oder Zwang bringt Menschen dazu, sich in ihrer Freiheit bedroht oder in ihrem Gerechtigkeitsempfinden verletzt zu fühlen. Und dann verleitet die Reaktanz gern dazu, entgegengesetzt zu Reagieren.

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Das neue Buch von Carmen Thomas.

Eine Variante: Jemand, dessen Meinung Sie partout nicht teilen, und den Sie deshalb ablehnen, wird in einer Talkshow von dem Moderator oder der Moderatorin drangsaliert. Dann kann das Ihren Reaktanz-Gerechtigkeitssensor aktivieren, und Ihnen tut die Person plötzlich leid, ist Ihnen sogar sympathisch.

Mein Hals schwillt auch, wenn ich dieser Tage Menschen ohne Maske begegne, die mir obendrein zu nah auf die Pelle rücken. Wie kann ich lernen, besonnener damit umzugehen? Konkret gefragt: Gibt es konkrete Techniken Reaktanz zu überwinden?

Überwinden nicht, aber verkleinern. Mir helfen in allen diesen Situationen sieben Sätze und sieben Werkzeuge, die mein Leben verändert und mich dazu gebracht haben, dieses Buch zu schreiben. Im Endeffekt waren es die jahrelangen Erfahrungen als Moderatorin der ersten Mitmach-Sendung im Rundfunk, „Hallo Ü Wagen“, die mir geholfen haben, Blindwiderstand immer schneller zu erkennen und konstruktiv umnutzen zu lernen. Es ist eigentlich der Natur abgeschaut: die vermag ja, Dung in Dünger zu kompostieren, also etwas zunächst Stinkiges und Ekliges in duftenden, fruchtbaren Humus zu verwandeln. Genauso kann das im Alltag funktionieren, in Beziehungen und auch im Job.

Brillante Sätze, die die Luft rauslassen

Ich habe verstanden

Der Satz „Ich habe verstanden“, bedeutet nicht, dass ich mit der Meinung oder Reaktion meines Gegenübers einverstanden bin, entspannt aber aufgeladene Situationen und Konfliktfälle ungemein. Die Reaktion zeigt, dass ich das Anliegen meines Gegenübers ernst nehme, auch wenn ich anderer Meinung bin. Auch gut, wenn einem spontan nur Abwertendes oder Rechtfertigendes auf eine Kritik oder Idee einfallen würde sind die Sätze: „Das ist jetzt Ihre Meinung"  oder "Ja, ich werde darüber nachdenken", dieser entstressende Zaubersatz eignet sich für jede Kritik- und Feedback-Situation, denn er sorgt für sofortiges Luftrauslassen, verschafft Zeit und die Voraussetzung für überlegtes, reifes Reagieren: und: Er wärmt die Atmosphäre.

Was spricht dafür, was dagegen?

„Was spricht dafür, und was spricht dagegen?“, ist der ideale Satz, um auf Ideen, von denen man selber zunächst nicht überzeugt ist an denen man zweifelt, zu reagieren. Der Satz bewirkt, dass die Gruppe, die beste Lösung findet und erspart Machtkämpfe. Wichtig: Jede Person spricht dabei nur für sich, ohne andere Meinungen zu unterstützen oder ihnen zu widersprechen (also beispielsweise ohne das reaktant machende „Finde ich auch“ oder „Genau wie Y“, „Ganz anders als X ...“). 

Ja, kläre ich

Wenn Sie jemand auffordert, etwas zu tun, was Ihnen zunächst einen dicken Hals erzeugt, weil Sie nicht damit einverstanden sind oder Sie sich bevormundet fühlen, reagieren Sie idealerweise mit "Ja, kläre ich.“ Es kann erleichternd sein, auf alle Anfragen, Angebote, Bitten und Forderungen diesen Code-Satz parat zu haben, denn er ist klar, kurz, wertschätzend und Reaktanz senkend, weil er freundlich und positiv wirkt. Ähnlich gut: "Schreiben Sie das bitte auf, ich beschäftige mich später damit" oder "Das bearbeitet xy und wird berichten".

Interessiert mich

„Interessiert mich“ korrespondiert mit dem Satz „Ja, das bearbeitet ein Team-Mitglied (gegebenenfalls mit Namen) und berichtet.“ Der Satz taugt vor allem für Menschen in Führungspositionen und in Situationen, in denen mit Augenmaß entschieden wird, ob delegieren oder besser doch selbst machen angesagt ist. Denn würde ein Chef auf jedes Ansinnen antworten: "Ich kümmer mich” würde sich das Gegenüber wahrscheinlich veräppelt fühlen.

Kopieren zum Kapieren

Letzter Tipp: „Kopieren zum Kapieren“ steht für die Einladung, diese Sätze eine Weile schlicht zu kopieren, sie auf einem Post-it gut sichtbar am Arbeitsplatz zu positionieren oder für Konferenzen auf das Handy zu kleben, um bei jeder inneren Reaktanz-Anwandlung immer mehr zu kapieren, was die Haltungs-Veränderung alles bewirken kann. Dabei lässt sich trainieren: Welcher Satz passt wo, mit wem, wann und wieso am besten? Was passiert dabei mit mir und meinem Gegenüber?

Kurz zurück zu den sieben Werkzeugen, die mir helfen können, meinen Hals auf Masken- und Distanzverweigerer zu verbannen.

In meinem Buch beschreibe ich, wie es zu den sieben Schlüssel-Sätzen kam, die zu meinen Leitsätzen wurden. Zunächst gilt es, in Ihrem Fall, im ersten Schritt die Wurzeln Ihres fiesen Gefühls erkennen und benennen zu lernen. Spielt vielleicht eine große Angst vor Krankheit und Tod eine Rolle? Im zweiten Schritt wäre möglich, statt zuzumachen, erst mal zuzulassen, dass andere Menschen anders denken als Sie. Denn es gibt einen Mechanismus, dass sich Gruppen quasi automatisch in drei Fraktionen gliedern: Diejenigen, die zustimmen, die, die ablehnen und die, die in ihrer Position unsicher sind.

Ein entstressender Schritt könnte sein, andere Haltungen zuzulassen, ohne gleich zu konkurrieren, wer Recht hat. Damit könnten Sie ein wenig von deren Gelassenheit im Umgang mit Krankheit und Tod oder von deren Freiheitsliebe dazuzubekommen. Auch möglich: Ver- statt bewerten, sich fragen, weshalb diese Nicht-Masken-Träger weniger Angst haben? Weshalb sehen die nicht in jedem und jeder eine Gefahr? Oder können sie die ständige Distanz einfach nicht mehr ertragen? Damit wären Sie schon näher am Schlüssel-Satz Nummer vier: umzunutzen statt runterzuputzen und an der Erkenntnis, dass Verschiedenheit ein demokratischer Wert ist. Gleiches Agieren gibt es nur im Faschismus. Schließlich ist es ja auch furchtbar anstrengend, ständig mit einem dicken Hals auf Nicht-Masken-Träger zu reagieren. Schlüssel-Satz Nummer fünf kann schließlich ein erstes Verständigen signalisieren und einen wertschätzenderen Umgang mit dem Gegenüber einläuten: „Deine Meinung interessiert mich“, statt kopfschüttelnd zu demonstrieren: „Kenn ich, deine blöde Argumentation“. Damit bekommen Sie die Chance, sich selbst aufzuschließen, um eventuell doch noch Neues zu erfahren.

Diese Werkzeuge sind ja nicht nur eine Alltagshilfe, wenn man auf Nicht-Masken-Träger oder einem anderweitig gegen den Strich gehende Menschen trifft. Sie sind Ihrer Meinung nach  ja viel mehr: ein Universalschlüssel für eine bessere Umgangskultur, ein friedfertiges Miteinander – auch im Job.

Bestes Beispiel ist das zweite Reaktanz-, oder „Ab dem Fünften kippt's-Gesetz“, das in meiner jahrzehntelangen Coaching-Tätigkeit von jeder Gruppe quasi mechanisch unter Beweis gestellt wird und wie bei einem Magneten in der Physik funktioniert: Wer einen Pol abschneidet, sorgt dafür, dass sich der fehlende sofort am abgeschrittenen Ende neu organisiert. Ich demonstriere das in Coachings gern, in dem ich fünf, sechs Teilnehmenden einen Becher stinknormaler Pfefferminzbonbons anbiete mit den Worten: „Probieren Sie mal! Das hier sind ganz außergewöhnlich leckere Bonbons.“ Auf die Frage: „Und, wie schmeckt's?“ werden Person eins bis vier höflich-schal antworten: „Gut“ oder „Normal“. Spätestens Person Nummer fünf wird entweder übertreibend: „Himmlisch“ antworten, oder, um die Höflichkeitswelle zu unterbrechen, mit „total langweilig“. Wenn die Bonbons aber mit den Worten „Bitte probieren Sie mal: schmecken die nicht irgendwie komisch“? kredenze, geschieht Gegenteiliges. Die ersten vier pflichten bei, spätestens Person Nummer fünf behauptet, dass die Bonbons besonders lecker seien. 

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Es gibt also genau gegenteilige Reaktanz-Reaktionen auf eine Situation?

Reaktanz kann beides: Dafür sorgen, dass zu viel Schwärmen in Abwehr kippt, und zu viel Maulen in Zustimmung. Eine andere Gesetzmäßigkeit ist der Prozess, der sich in Gang setzt, wenn in einer Gruppe Neues angeregt wird. Wie bei vielen Entdeckungen dieser Welt, geschieht dann der Reihe nach Folgendes: Die Idee wird ignoriert, verlacht, bekämpft, akzeptiert und dann erst übernommen. Wer die Wirkweisen und Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation und der sie auslösenden Reaktanzen kennt, kann Gruppendynamiken positiv beeinflussen und auf Dauer eine bessere Umgangskultur erzeugen. Bestes Beispiel dafür lieferte kürzlich ein bekannter Wirtschaftsboss, der längere Zeit im Coaching war. Er erzählte, dass er früher, sobald ihm in einem Meeting der Hals schwoll, er sich immer sofort eingemischt und draufgehauen habe. Jetzt würde er sich in allen Gremien zurücklehnen und bis fünf zählen. Denn er hat gelernt, tiefer hin- und dahinter zu hören, zu versuchen, zu verstehen oder auch freundlich nachzufragen. Seither würden ihn alle erstaunt anschauen und sich fragen, was er wohl seit einiger Zeit einnähme.

Zusammenfassend: Was kann Reaktanz?

Mir haben eigene und andere reaktante Verhaltensweisen dabei geholfen, deutlich aufgeschlossener und gelassener zu reagieren und sie nicht mehr als Stinkigkeiten oder Fiesheiten zu verstehen. Vielmehr dienen sie als Hinweise darauf, dass etwas zum Beispiel die Freiheit meines Gegenübers einschränkt. Es hilft auch, zu begreifen, dass Reaktanz einer der Hauptgründe ist, warum Menschen von neuen Ideen nicht sofort begeistert sind und sie erstmal mechanisch ablehnen. All das kann helfen, diesen blinden Widerstand als Hilfe zur Veränderung zu begreifen. Denn oft zeigt Reaktanz, dass das innere Gleichgewicht, die Harmonie bedroht ist – in einer Gruppe, zwischen Partnern und Kollegen. Das Wissen um Reaktanz kann  dabei helfen, das Gleichgewicht wieder herzustellen und das Betriebsklima nachhaltig zu verbessern. Das wiederum ermöglicht, mehr Fairness, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit ins eigene Umfeld und in die Gesellschaft zu bringen. Gerade in dieser Zeit passieren weltweit so viel ähnliche und zeitgleich reaktant machende Dinge: Corona, Klimawandel, Digitalisierung, Flüchtlinge, die nicht mehr in Krieg und Armut leben wollen. Das alles ist verunsichernd. Und es verbindet. Damit birgt es Chancen, statt instinktivem Dagegensein, Frust und Ratlosigkeit eine Halt und Zusammenhalt bietende, friedfertigere und wertschätzendere Umgangskultur zu etablieren.

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