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Der alte Mann und das DorfHeinrich Melder lebt seit 1935 in Niederkastenholz

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Heinrich Melder lebt seit seiner Geburt im Jahr 1935 in Niederkastenholz.  

Euskirchen-Niederkastenholz – Es gab mal eine Zeit, da war Heinrich Melder, geboren 1935 in Niederkastenholz, objektiv reich. Er ist vier, als der Krieg ausbricht, die Eltern haben ein Stück Land und einen Bauernhof in Niederkastenholz. Bauern waren sie fast alle im Dorf. Und wer Bauer war, der hatte was zu essen. Das war Reichtum.

Als er klein war, wurden die Felder noch mit Pferden bestellt. Aus Flamersheim kamen ganze Schulklassen, um bei der Rübenernte zu helfen. Die Knollen mussten ausgestochen, rausgezogen und auf den Wagen geworfen werden. Das dauerte damals mehrere Wochen. Dasselbe Feld beackert heute ein Spezial-Traktor in zweieinhalb Stunden.

Heinrich Melder weiß das ganz genau, denn was in der Gegend passiert, das interessiert ihn immer noch sehr: Wie oft der Obstbauer dieses Jahr schon gespritzt hat (dreimal). Wer nächste Woche 90 Jahre alt wird. Wer einen Herzinfarkt hatte und welches Kind dieses Jahr zur Kommunion geht. Jeden Tag streift der drahtige kleine Mann durch die Felder, den Wald und die Nachbardörfer, freundlich, grüßt jeden.

In Niederkastenholz kennt den Heinrich jeder und Heinrich kennt jeden. Heinrich ist das Dorfgedächtnis. Er weiß von jedem, ob alt ob jung, auch von den Zugezogenen, den Namen und auch das genaue Geburtsdatum. Alle Berufe, alle Werdegänge. Es ist verblüffend.

Was Heinrich noch weiß: Niederkastenholz hat ungefähr 100 Häuser. In 20 davon wohnt nur noch eine Person, das hat er neulich nachgerechnet. Früher wohnten dort ganze Familien mit acht, neun, zehn Kindern.

Als Heinrich älter geworden war, hat er den Hof der Eltern übernommen, ist nicht in die Fabrik gegangen wie andere. Ein paar Kühe hatten sie im Stall.

In den 60er und 70er Jahren waren die kleinen Bauern dann eher arm, alles wurde industrialisierter. „Wie eine Fabrik“, sagt Heinrich, aber es ging gerade so. Die Familie kam über die Runden.

Auch seine Küche hat durchaus Museumswert.

Heinrich hat nie geheiratet. „Die Frauen, die ich will, die wollen mich nicht. Und die, die mich wollen, die will ich nicht“, sagt er und grinst. Immer einen frechen Spruch auf Lager.

Wenn er Bilder zeigt von früher, dann sieht man Heinrich, wie er anderen Menschen hilft bei Bauarbeiten oder auf dem Bauernhof, etwas zu reparieren oder von A nach B zu transportieren. Auf einem Foto winkt Heinrich von einem Schiff, das in seinem Garten steht. Das hatte einer bei ihm unter gestellt. Heinrich ist eben hilfsbereit.

In den 80ern hat er die Mutter gepflegt, bis zu ihrem Tod. Und dann ging er in Rente. Spätestens seitdem steht die Zeit still bei Heinrich. Sein 300 Jahre altes Fachwerkhaus mitten im Dorf würde perfekt ins Freilichtmuseum passen. Oder in einen Märchenfilm. Klobige runde Pflastersteine im Hof.

Eine Kletterpflanze hält den Putz an der Wand, der gefährlich bröckelt, wenn man mit den Fingern daran entlang streicht. Die Decken sind niedrig, die Wände schief und die Räume klein. Geheizt wird mit dem Ofen. Heinrich hat einen röhrenden Hirsch an der Wand. Und ein wuchtiges Buffet, viel zu groß für das Zimmerchen, fast sprengt es den Raum. Auf dem Esstisch liegen jahrzehntealte Briefe. Manchmal regnet es rein. Bei den Scheunen im Hinterhof ist das Dach halb eingestürzt. Trotzdem ist es alles sehr ordentlich.

Ist Heinrich ein reicher Mann? Vielleicht. Sein aus der Zeit gefallenes Grundstück in Niederkastenholz ist heiß begehrt, ein Filetstück. Mitten im Dorf, riesiger Garten. Da wittern einige ihre Chance, umschmeicheln und drängen den alten Mann, es ihnen zu verkaufen. „Wer unzufrieden ist, der mag sich nicht“, sagt Heinrich.

Doch Geld interessiert Heinrich nicht. Bescheidener als er kann man kaum leben. Er hat kein Auto, keinen Fernseher, kein Telefon. Nur ein Radio, mit dem hört er WDR 4. Die Nachbarn kümmern sich ein bisschen. Manchmal spielt er Karten. Einmal war er in Urlaub, in Luxemburg, das war das Weiteste. Das Meer hat er nie gesehen.

Er vermisse nichts, sagt er. Was Glück für ihn sei? „Es gibt einen Spruch: Glück ist eine reiche Frau“, grinst er.

Jetzt aber mal ehrlich, Heinrich! Was Glück sei, das wisse er nicht. Aber: „Zufriedenheit. Das ist ein Königreich!“