Euskirchenerin erzähltCorona-Pandemie belastet psychische Gesundheit

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Wenn die Seele leidet: Vielen Menschen macht das eingeschränkte Alltagsleben in der Pandemie zu schaffen.

Wenn die Seele leidet: Vielen Menschen macht das eingeschränkte Alltagsleben in der Pandemie zu schaffen.

Kreis Euskirchen – „Wenn man seit einem ganzen verdammten Jahr eingesperrt ist mit seinen Gedanken, dann kann das schon was auslösen – bei Menschen mit psychischen Problemen erst recht. Ich bin jedenfalls überglücklich, in Therapie zu sein und damit einen Raum zu haben, das aufarbeiten zu können“, sagt die 19-jährige Vanessa. Seit vier Jahren wird die junge Frau wegen Depressionen behandelt, mit Medikamenten wie mit Psychotherapie.

Junge Menschen leiden

„In meinem Umfeld bekomme ich mit, wie junge Menschen leiden, auch solche, die bisher nicht psychisch erkrankt waren.“ Sich beispielsweise bei lauter Musik auf einer Tanzfläche auszutoben – auch für Vanessa ein probates Mittel gegen die Dämonen, wie sie es nennt –, entfalle. „Viele suchen nach anderen Ventilen, versuchen in der WG coronafreundlich Partylaune aufkommen zu lassen und schmeißen Drogen ein, die die Stimmung heben. Von krass gestiegenem Alkoholkonsum ganz zu schweigen“, so die 19-jährige Studentin.

„Massive Folgen für die psychische Gesundheit infolge der Corona-Maßnahmen“ beschwört die Stiftung Deutsche Depressionshilfe schon seit längerem. In ihrem neuen „Deutschland-Barometer Depression“, einer repräsentativen Befragung unter knapp 5200 Personen zwischen 18 und 69 Jahren, wird deutlich, dass das zurückliegende Jahr für alle eine ungeheure Belastung war, jedoch für Menschen mit Depressionen eine ungleich höhere.

Kontakte fehlen

Der Mangel an Sozialkontakte, die Einschränkungen des Ausgangs, der Bewegung und der Selbstbestimmung hätten zu drastischen Veränderungen des sozialen Alltags der Menschen geführt, meint auch die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft (PSAG) Kreis Euskirchen.

„Nicht nur für Menschen mit psychischen Erkrankungen, auch für psychisch stabile Menschen bedeutet dies eine enorme Belastung und Sorge um die eigene Gesundheit“, heißt es in einem Statement des PSAG-Vorsitzenden Friedrich Neitscher. „Es ist festzustellen, dass auch bisher gesunde und stabile Menschen plötzlich behandlungsbedürftige Angstsymptome und Schlafstörungen entwickeln und sich die Symptome psychisch kranker Menschen verschärfen“, so der Psychotherapeut.

Bedarf an professioneller Hilfe wächst

Der Bedarf an Hilfsangeboten und unterstützenden Maßnahmen wächst spürbar, doch Therapieplätze sind überaus rar gesät. Hilfe- und Krisentelefone vermelden einen enormen Zulauf und leisten so etwas wie seelische Erste Hilfe. Deutlich spüren können dies auch die Mitarbeitenden des Selbsthilfe-Büros des Paritätischen, allen voran Nicole Giefer: „Zwei Drittel der Anfragen, die wir seit Ende Dezember hier hatten, drehten sich um psychische Erkrankung, Angst, Sucht, Vereinsamung und wirtschaftliche Existenzängste.“ Angst vor Ansteckung wurde kaum benannt.

Halt geben und erfahren

Das Selbsthilfe-Büro des Paritätischen Kreis Euskirchen informiert über professionelle Hilfsangebote, vermittelt Interessenten in bestehende Selbsthilfegruppen und unterstützt auch bei Neugründungen.

Selbsthilfegruppen ermöglichen den Teilnehmenden, sich miteinander über ihre Probleme und Erfahrungen auszutauschen und Empathie zu erfahren. Insgesamt helfen die Gruppen, das Selbstbewusstsein zu stärken, Halt zu geben und zu erfahren, Lebenslust wiederzufinden, die Selbstkenntnis zu fördern und Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Die Kontaktstelle Selbsthilfe-Büro, Tel. 0172/ 2145897, findet man in der Sebastianusstraße 20 in Euskirchen. Sprechzeiten sind dienstags (14 bis 16 Uhr), mittwochs (9 bis 12 Uhr) sowie nach Vereinbarung.

Der Wegweiser für seelische Gesundheit von der PSAG Kreis Euskirchen führt alle Hilfsangebote in schwierigen Lebenslagen oder Krisen in der Region auf. Bestellen kann man den Wegweiser unter Tel. 0 22 51/ 15 466 oder 15 473 sowie per E-Mail. (hn)

www.selbsthilfe-euskirchen.de

jasmin.brauers@kreis-euskirchen.de

Laut Giefer ist der Bedarf an Hilfe spürbar höher als vor Ausbruch der Pandemie. „Im August haben wir einen Aufruf gestartet für eine neue Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depression. Innerhalb kurzer Zeit meldeten sich 64 Interessenten, so dass wir drei neue Gruppen an den Start brachten.“ Im zweiten Lockdown habe man Postkarten mit dem Aufdruck „Verkriech dich nicht! – Wir sind für dich da!“ verteilt – unter anderem in Arztpraxen, Beratungsstellen oder Apotheken: „Über 70 Menschen haben sich daraufhin bei uns gemeldet“, so Giefer.

Hilfe suchen auf dem Land schwieriger

Für den ländlichen Raum beträchtliche Zahlen, da man hier sehr viel zurückhaltendender sei, wenn es um die Teilnahme an Selbsthilfegruppen gehe. „Die Angst, dem Nachbarn zu begegnen, ist bei vielen anfangs vorhanden.“ Nachdenklich stimme bei so viel Zulauf, dass man unter Fachleuten davon ausgehe, nur fünf Prozent der Betroffenen in Selbsthilfegruppen einbinden zu können.

Elf Selbsthilfegruppen rund um psychische Erkrankungen gibt es im Kreis Euskirchen – Tendenz steigend. Hans Wolters (Name geändert) schloss sich vor einigen Jahren einer dieser Gruppen an, die während der Corona-Zeit jedoch mehr oder weniger eingeschlafen ist. Manche haben es geschafft, die regelmäßigen Treffen ins Internet zu verlegen, andere verabreden sich zu zweit zu Spaziergängen, haben WhatsApp-Gruppen gegründet oder sind per E-Mail in Kontakt.

Herausforderungen durch die Pandemie

Die Pandemie und die damit verbundenen Beschränkungen stellen auch Wolters vor große Herausforderungen: „Alles, was ich mir im Laufe der Jahre erarbeitet habe, um nicht in ein Loch zu fallen, ist jetzt verboten“, so der 53-Jährige, der seit Kindertagen an Depressionen leidet. Gemeint sind vor allem die Pflege sozialer Kontakte und der Sport, aber eben auch die Besuche von Selbsthilfe- und Therapiegruppen.

Alles in allem aber ist Hans Wolters überrascht, wie gut es ihm mittlerweile gelinge, „so viel Zeit allein zu Hause zu sein und mit mir selbst klarzukommen“. Den Sport hat er in die eigenen vier Wände verlegt, zudem die alte E-Gitarre wieder herausgeholt, „so kann ich mich stundenlang beschäftigen“.

Serien als Fluchtraum

Auch die 19-jährige Vanessa kämpft gegen die corona-bedingte „Stille in den eigenen vier Wänden, in der die dunklen Gedanken gedeihen“, die sie unter normalen Umständen mit Tagesstruktur, Terminen und Verabredungen füllt. Zu Hilfe kommen der Studentin vor allem Streamingdienste: „Ich schaue eine Serie nach der anderen, egal zu welcher Uhrzeit.“

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Nicole Giefer vom Paritätischen ist überzeugt, dass auch in diesen schwierigen Zeiten die Selbsthilfe eine wichtige Säule ist, um Betroffenen Erleichterung zu verschaffen – wenn sie die Hemmschwelle einmal überwunden haben. „Wir laden einmal im Monat zum zwanglosen Online-Abendplausch ein – auch jene , die noch keine Selbsthilfearbeit kennen“, sagt Fachfrau Giefer. Das Angebot unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ werde bereits gut angenommen.

Nachfrage nach Therapieplätzen seit Beginn der Corona-Pandemie stark gestiegen

Nach Angaben der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) ist die Nachfrage nach Therapieplätzen seit Beginn der Corona-Pandemie stark gestiegen: bei Erwachsenen um 40 Prozent, bei Kindern und Jugendlichen sogar um 60 Prozent.

„Die Zahlen sind eindeutig: Die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen hat zugenommen“, sagt der DPtV-Bundesvorsitzende Gebhard Hentschel. „Corona wird bei der heranwachsenden Generation Spuren hinterlassen. Schon jetzt sollten wir die Zeit nach der Pandemie planen und Geld für Hilfs- und Unterstützungsangebote bereitstellen“, meint der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Gebraucht werde ein Förderprogramm für „psychische Gesundheit und soziales Miteinander“.

„Nach Corona darf der Fokus nicht nur auf dem versäumten Schulstoff liegen. Kinder müssen psychisch gestärkt werden und ausgiebig Zeit für Spiel, Sport, Kultur und soziale Interaktion erhalten, um die Monate eingeschränkter Kontakte auszugleichen“, fordert Hentschel.

Auch die Ausfalltage im Job wegen psychischer Erkrankungen sprechen für sich: Noch nie habe es so viele wie im Corona-Jahr 2020 gegeben, sagt eine Analyse der DAK-Gesundheit. Mit rund 265 Fehltagen je 100 Versicherte wurde ein neuer Höchststand erreicht. Der Anstieg betraf vor allem Frauen, bei den Männern verharrten die Fehlzeiten fast auf Vorjahresniveau.

Ein psychischer Krankheitsfall dauerte 2020 durchschnittlich 39 Tage – so lange wie noch nie zuvor. Das geht aus dem aktuellen Psychreport der DAK-Gesundheit hervor. Häufigste Ursache für die Krankschreibung waren Depressionen. Bei den Anpassungsstörungen – Reaktionen auf ein belastendes Lebensereignis – gab es mit acht Prozent den größten Zuwachs gegenüber dem Vorjahr. 

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