Zeichen für den AufbruchMit Mammutprojekt will Schleiden wiederaufbauen

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Millionenschäden hat die Stadt Schleiden an der Infrastruktur zu beseitigen.

Millionenschäden hat die Stadt Schleiden an der Infrastruktur zu beseitigen.

Schleiden – Zum ersten Mal nach der Flutkatastrophe haben sich die Schleidener Ratsmitglieder zur Sitzung getroffen. Es gilt, Bilanz zu ziehen: Bürgermeister Ingo Pfennings lässt die Stunden ab dem Morgen des 14. Juli, die verheerende Flutnacht und die Arbeit in den darauf folgenden Tagen und Wochen aus Sicht der Verwaltung Revue passieren. Es gilt, Dank zu sagen: Politiker jedweder Couleur sind sich einig, dass die Crew im Rathaus um Pfennings und den Beigeordneten Marcel Wolter, all die Hilfsorganisationen und die unzähligen privaten Helfer einen ausgezeichneten Job gemacht haben. Vor allem aber gilt es, den Blick nach vorne zu richten und den Wiederaufbau anzugehen.

Das Projekt 21/26

Unmittelbar nach der Katastrophe hat die Bestandsaufnahme begonnen. In strukturierte Planungen sind die Schleidener laut Pfennings nach rund vier Wochen eingestiegen. Projekt 21/26 ist nun die Mammutaufgabe überschrieben, die Schäden an der kommunalen Infrastruktur, die sich ersten Schätzungen zufolge auf rund 200 Millionen Euro belaufen, zu beseitigen. Als „Bauminister“ (Pfennings) hat der Rat Marcel Wolter bestätigt. Strukturen und Zuordnungen in der Verwaltung werden umorganisiert, so dass die Verwaltung für dieses Projekt gerüstet ist.

Der Zeitplan

Für Wiederauf- und Neubau haben die Schleidener fünf Jahre veranschlagt. Teils aus gesetzlichen Vorgaben hat sich eine erste Reihenfolge der Projekte ergeben. Schulen, Kindergärten oder die Verkehrswege erhalten dadurch etwa hohe Prioritäten, woraus sich dann nachfolgende Aufgaben ergeben haben. Doch immer wieder wird in der Ratssitzung betont, dass nichts in Stein gemeißelt ist. Beispielsweise durch das Fließen von Fördermitteln können sich immer wieder Veränderungen ergeben. Oder durch Übergangslösungen wie beim Nationalparktor: Es zieht bis Ende 2022 in die Räume der ehemaligen Apotheke nahe des Marienplatzes. Und da laut Wolter eine Verlängerungsoption besteht, könne man sich mit diesem Projekt etwas mehr Zeit lassen.

Die Ziele

„Wir müssen unsere Stadt wieder aufbauen – und dabei ein verlässlicher Partner sein“, fasste es CDU-Fraktionschef Jochen Kupp zusammen. Einig waren sich er und seine Ratskollegen darin, dass es ein „Nur weiter so“, wie es Gerd Breuer (UWV) formulierte, beim Wiederaufbau nicht geben darf, dass neue Ideen und Schutzmaßnahmen gefordert sind. „Wenn wir nichts im Hochwasserschutz tun, wird die Stadt nicht noch einmal wieder aufgebaut, wenn etwas passiert“, formulierte es Jan Griskewitz (FDP). Eine „rote Linie“ wünscht sich Petra Freche (Grüne) beim Thema Nachhaltigkeit, Innovation und Klimaschutz.

Das Personal

Ein wichtiger Faktor bei der Geschwindigkeit ist die Zahl derer, die sich um die Projekte kümmern. 3,5 Stellen, so Wolter, will die Stadt zusätzlich schaffen. Neben je einem Hoch- und Tiefbautechniker sollen es 1,5 Stellen in der Verwaltungsassistenz sein, für die man zudem auf Förderung der Personalkosten hofft. Wolter ist bewusst, dass gerade die Techniker derzeit heiß begehrt sind. Einen „Bieterwettbewerb“ der Verwaltungen befürchtet Wolter nicht, da alle nach Tarif zahlen – jedoch suchen im privatwirtschaftlichen Bereich auch Planungs- und Ingenieurbüros händeringend diese Fachkräfte.

„Aber es geht nicht nur ums Geld“, hat Wolter festgestellt – es gehe darum, mit einem attraktiven Arbeitsplatz zu überzeugen. Möglicherweise zahlt sich auch seine Schnelligkeit aus: Zehn Tage nach der Flut habe die Stadt die Stellen ausgeschrieben, in der kommenden Woche finden laut Wolter erste Bewerbungsgespräche statt.

Der Umbruch

Die reine Notfallversorgung der Betroffenen läuft so langsam aus. Aufgrund der zerstörten Häuser, der beschädigten Kanalisation und der fehlenden Wasserversorgung waren im Flutgebiet unmittelbar nach der Katastrophe 91 Dixie-Toiletten aufgestellt worden. Diese wurden nach und nach reduziert, aktuell sind es noch neun, die bis Ende des Monats in Betrieb bleiben sollen. Die Duschgelegenheit in der Realschule und der Container in Gemünd bleiben noch „bis auf Weiteres“, so Pfennings, stehen.

Zudem ist das Verpflegungszelt am Ose in Gemünd am Sonntag geschlossen worden. Zum einen ist laut Pfennings durch die beiden Metzgereien – Steffen hat seit Anfang August wieder geöffnet, Heck ist seit Dienstag mit einem Verkaufswagen am Start – und zwei Imbisse gegeben. Zum anderen seien viele mit Behelfs-Kochmöglichkeiten ausgestattet oder leben derzeit nicht in ihren schwer beschädigten Häusern. Die Ansicht teilt SPD-Fraktionschef Detlef Fassbender indes nicht: „Mehr als 100 Anrufe“ habe er von Menschen erhalten, die die Einstellung der Verpflegung „nicht toll finden“. Er fragte an, ob es nicht einen Raum gebe, in dem Freiwillige mit Lebensmittelspenden kochen könnten. Hier verweist Wolter jedoch auf die zahlreichen Genehmigungen, die beim Thema Lebensmittel erforderlich seien.

Die Obdachlosigkeit

1500 Haushalte zwischen Oberhausen und Gemünd sind stark von der Katastrophe betroffen, laut Wolter sind 1700 Soforthilfen über die Stadt ausgezahlt worden. In einer Umfrage hat die Verwaltung sich ein Bild verschaffen wollen, wie die Lage bei den Betroffenen ist. 299 Haushalte haben den Fragebogen ausgefüllt. 150 haben angegeben, dass ihre Häuser derzeit nicht bewohnbar sind. Keine Bleibe bis Ende April zu haben, haben neun angegeben, bei 54 ist die Unterkunft bis dahin ungewiss. In diesen Fällen will die Verwaltung schnell Kontakt zu den Betroffenen aufnehmen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden.

Zudem werden die Heizungen ein drängendes Problem: 208 Teilnehmer der Umfrage haben angegeben, dass es in ihrem Haus keine Heizung gibt, 156 haben auch kein warmes Wasser, 41 keine Toilette, 54 sind noch ohne Strom.

Die seelischen Verletzungen

121 Teilnehmer der Umfrage haben angegeben, nicht zurückkehren zu wollen. Diese hohe Zahl ist laut Wolter erwartet worden. Es gebe gerade im Bereich Malsbenden zahlreiche Bewohner von Mietwohnungen, die inzwischen anderswo wohnen. Zudem seien es Bewohner von Häusern, die abgerissen werden müssen. Und es seien diejenigen, die aufgrund psychischer Belastungen, etwa der Angst vor Wasser, nicht zurückkehren wollen.

Gerade für die unzähligen seelischen Verletzungen infolge der Flut stehen in der Stadt Experten zur Verfügung. In den ersten zehn Tagen nach der Katastrophe sind alleine mehr als 1000 Gespräche geführt worden, seit Anfang August vermittelt durch die Koordinierungsstelle mehr als 100.

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Gerade in den vergangenen beiden Wochen, als bei vielen die Aufräumarbeiten beendet worden seien, sei der Bedarf deutlich gestiegen. Bei der Stadt stellt man sich darauf ein, dass sich mit dem Beginn der dunklen Jahreszeit die Welle des Verarbeitens und damit der Nachfrage nach Hilfe verstärkt.

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