Jürgen Wittler und Heijo Flink-Irnich aus Kirchheim wanderten in gut sechs Wochen 800 Kilometer nach Santiago de Compostela.
Besonderer BegleiterEuskirchener pilgerten mit dem König der Würde auf dem Jakobsweg

Am Ziel: Jürgen Wittler (l.) und Heijo Flink-Irnich vor der Kathedrale in Santiago de Compostela.
Copyright: Jürgen Wittler
Lautes Schnarchen im Schlafsaal, orkanartiger Sturm, gefährliche Bergpassagen, schmerzende Füße: Der Jakobsweg hält eine ganze Reihe von Prüfungen bereit. „Die Anforderungen an Körper und Geist sind enorm“, sagt Jürgen Wittler. Er hat 800 Kilometer am Stück auf der Pilgerroute zurückgelegt. Wenn er davon erzählt, stehen aber nicht etwa Entbehrungen im Vordergrund, sondern die Begeisterung und unvergessliche Eindrücke.
Wittler war früher Förster beim Regionalforstamt Hocheifel/Zülpicher Börde mit der Hardtburg als Dienstsitz, heute lebt er in Kirchheim. Im gleichen Haus wie er wohnt Heinz-Josef (Heijo) Flink-Irnich. Die beiden gläubigen Katholiken nahmen das Abenteuer Jakobsweg gemeinsam in Angriff.
Der 75-jährige Jürgen Wittler erzählt von seinen Beweggründen
Sie entschieden sich für den Camino Francés, der von Saint-Jean-Pied-de-Port in den französischen Pyrenäen durch den Norden Spaniens nach Santiago de Compostela führt. Für besagte 800 Kilometer benötigten die beiden Kirchheimer sechs Wochen und zwei Tage. Am 11. Juni erreichten sie ihr Ziel.
Seine Beweggründe, erzählt der 75-jährige Jürgen Wittler, seien vielfältig gewesen – eine Mischung unter anderem aus Dankbarkeit, Selbstfindung, Neugierde und dem Wunsch, mit einem Freund eine lange Zeit auf einem langen und unbekannten Weg zu verbringen. „Dankbarkeit vor allem dafür“, erklärt Wittler, „dass ich drei Jahre nach einer Krebsdiagnose noch am Leben bin.“ Die Neugierde galt anderen Natur- und Kulturräumen. Hinzu kam das Interesse an Begegnungen mit Menschen, und zwar unter dem Aspekt „Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar“.

Die Skulptur „König der Würde“ zog ständig das Interesse auf sich.
Copyright: Jürgen Wittler

Der Camino Francés wartet immer wieder mit grandiosen Ausblicken auf.
Copyright: Jürgen Wittler
Hier kommt Jürgen Wittlers zweiter Begleiter ins Spiel: eine kleine Holzskulptur, der „König der Würde“, den der Bonner Diakon und Künstler Ralf Knoblauch wie viele weitere Exemplare aus einem alten Eichenbalken erschaffen hat.
Die Skulpturen sollen berühren und an die jedem Menschen innewohnende Königswürde erinnern – „und daran, dass wir Menschen füreinander da sein sollen“, zitiert Wittler den Künstler.
Durch die Skulptur kam Jürgen Wittler mit vielen Pilgern ins Gespräch
Auf dem Camino, dem Pilgerweg, leistete der König auch andere Dienste. Wittler stellte die Figur beim Essen auf den Tisch und kam auf diese Weise oft schnell ins Gespräch mit anderen Wanderern. „Das Schöne war: Sie wurden zugänglicher, viele hatten gleich ein Lächeln im Gesicht, so wie der König.“ Was hinter der Figur steckt, erläuterte Wittler bei Bedarf mit einem kurzen Text, den er auf seinem Handy in Englisch und in Spanisch parat hatte.
Apropos: Die Verständigung mit Pilgern aus anderen Ländern lief mit Englisch und, wenn es nicht anders ging, mit Händen und Füßen. Auf dem Camino Francés traf das Duo natürlich auch immer wieder Deutsche. Eine Frau zum Beispiel, mit der Jürgen Wittler ein ausgesprochen berührendes Gespräch führte, wie er erzählt: „Ein intensiver, unter die Haut gehender Gedankenaustausch über ihre Lebenskrisen, Burn-out und Lösungsmöglichkeiten. Vertrauensvoll, ehrlich, offen, respektvoll, nicht wertend, harmonisch und ausgeglichen.“
Es dauerte nur kurze Zeit, bis alle Gäste, egal welcher Nationalität, in der Bar tanzten.
Derartige Begegnungen gehören zu den bleibenden Erinnerungen, die Wittler nicht missen will. Heijo Flink-Irnich (65) geht es genauso. Er erzählt mit Begeisterung von einer Pause in einer Bar, wo sein Freund und er nach einem Gewitter drei Pilgerinnen aus Australien trafen, denen sie vorher schon begegnet waren. „Ein Spanier holte seine Gitarre, und es dauerte nur kurze Zeit, bis alle Gäste, egal welcher Nationalität, in der Bar tanzten.“
Flink-Irnich berichtet aber auch von gefährlichen Momenten. So war der Sturm auf dem Weg zum Col de Lepoeder, einem Pass auf 1432 Meter, dermaßen stark, dass er eine Pilgerin blitzartig von den Beinen holte. „Zum Glück konnte sie unverletzt weiterwandern.“
Die Kirchheimer trafen auf dem Jakobsweg Pilgerinnen und Pilger aus aller Welt
Jürgen Wittler schwärmt von den abwechslungsreichen Naturräumen entlang des Jakobsweges: Berglandschaften in den Pyrenäen, Weinanbaugebiete, Ackerbauflächen wie die riesigen Weizenfelder auf der Hochebene Meseta, Weide- und Forstwirtschaft, Naturschutzgebiete, Eukalyptus- und Esskastanienwälder, Oliven- und Mandelplantagen. Weniger schön: Abschnitte mit Industriegebieten oder parallel verlaufenden Autobahnen.
Was die Städte anbelangt, kommt ihm León in den Sinn mit auffallend vielen Häusern, an denen das Schild „Se vende“ hängt – zu verkaufen. In León sind die Kirchheimer eine Zeit lang mit zwei Frauen aus Peru und einem Schweden unterwegs. Eines von etlichen Beispielen für Begegnungen mit Pilgern aus aller Welt. Nicht vergessen wird Wittler das Gespräch mit einem US-Amerikaner aus Pennsylvania: „Sehr bewegende Momente“, notiert er später in seinem Tagebuch: „Michael (44) weint, als er vom Verlust seines Freundes erzählt. Wir verabschieden uns mit einer herzlichen Umarmung.“ Und weiter: „Auf dem Camino sind Begegnungen der besonderen Art möglich – oder an der Tagesordnung.“
Flink-Irnich und Wittler überwanden allein 13.850 Höhenmeter bergauf
Flink-Irnich gerät einmal, an einem Tag mit 34 Grad Celsius, an seine körperlichen Grenzen. Während eines langen Abstiegs macht sich sein arthrosegeschädigtes Knie stärker bemerkbar also ohnehin schon.
Während der gut sechswöchigen Tour absolvierte das Duo 13.100 Höhenmeter bergab und 13.850 Höhenmeter bergauf. Die längste Tagestappe betrug 38 Kilometer. Gut, dass die Wanderer mit recht leichtem Gepäck unterwegs waren.
Diesen Komfort haben wir uns manchmal gegönnt. Wir sind ja nicht mehr die Jüngsten.
Wittler hatte sich von Bekannten eigens einen nur 500 Gramm schweren Rucksack aus den USA mitbringen lassen. „Da waren knapp zehn Kilogramm drin. Vier Kilo mehr, als Experten empfehlen. Es gibt Leute, die wirklich auf jedes Gramm achten und zum Beispiel ein Stück vom Griff ihrer Zahnbürste abschneiden.“
Die ersten Übernachtungsplätze hatten die beiden vorab gebucht. „Auch danach haben wir immer eine Herberge bekommen. Mal wurde am Abend vorher reserviert, mal morgens.“ Die Unterkünfte unterschieden sich durchaus. Die Bandbreite reichte von Schlafsälen mit 40 Betten bis zum Doppelzimmer. „Diesen Komfort haben wir uns manchmal gegönnt. Wir sind ja nicht mehr die Jüngsten“, sagt Wittler schmunzelnd.
Die Ankunft in Santiago schildert er als hochemotional: „Du siehst die Kathedrale und weißt: Du hast es geschafft.“ Sein Freund Heijo und er hätten sich mit Tränen in den Augen umarmt, erzählt der 75-Jährige. „Die Pilgermesse mit sicherlich 300 Menschen ließ auch Zeit für stille Momente – Momente der Dankbarkeit für eine gute gemeinsame, respektvolle, wertschätzende Zeit auf dem Jakobsweg.“