InterviewLeverkusens Amtsarzt: „Die aktuelle Erkältungswelle ist ganz deutlich ein Nachholeffekt“

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Dr. Oehler Martin Oehler in seinem Büro

Dr. Oehler Martin Oehler in seinem Büro

Erkältung, Corona, Grippe: Alles schnieft zurzeit. Ein Gespräch mit Leverkusens Gesundheitsamtschef Martin Oehler über die aktuelle Krankheitswelle und die Folgen der Coronapandemie im Krankenhaus.

Herr Dr. Oehler, vor genau einem Jahr habe ich Sie im Interview gefragt, was Sie sich für 2022 wünschen. Ihre Antwort war: „Mein Wunsch wäre, dass es gelingt, die Krankenhäuser in Deutschland dauerhaft strukturell und personell im intensivmedizinischen Bereich zu stärken. Ich habe nicht das Gefühl, dass dieser Punkt in der Bundespolitik richtig ankommt.“ Nun sind wir genau in der Situation, vor der Sie gewarnt haben, Corona trifft auf Grippe und RSV und die Krankenhausbetten sind knapp sind. Macht Sie das wütend?

Martin Oehler: Nein, das Thema ist bei mir nicht emotional überlagert, ich bin auch nicht der Einzige, der das gesagt hat. Es ist bereits seit Jahren absehbar und es gab schon vor der Pandemie immer wieder lokal und temporär Probleme, intensivmedizinische Patienten zu versorgen. Durch die Pandemie ist das flächendeckend zutage getreten.

Ist die Botschaft denn zumindest jetzt angekommen?

Die aktuelle Zuspitzung sorgt derzeit für einige Aufregung und das zurecht. Dadurch ist es jetzt doch dazu gekommen, dass das auch in der großen Politik angekommen ist, zumindest, was die Kinderkliniken betrifft. Der Gesundheitsminister hat einige Veränderungen angekündigt, etwa die Abkehr von der Fallpauschale, das finde ich richtig. Ob wirklich in der Gesamtheit erkannt wurde, dass ein Umdenken nötig ist, ist für mich noch nicht ganz zu sehen.

Wie ist das Coronajahr in Leverkusen aus Ihrer Sicht verlaufen? Was war gut, was war nicht so gut?

Epidemiologisch ist festzustellen, dass sich Omikron in den verschiedenen Sublinien etabliert hat. Wenn das so bleibt, können wir im Prinzip zufrieden sein. Denn die immer neuen Subtypen sind zwar ansteckender und entziehen sich besser der Immunabwehr, haben aber eine weniger krankmachende Wirkung. Diese ist allerdings durch immer höhere Fallzahlen erkauft. Schlecht gelaufen ist aus meiner Sicht, dass es einen Umschlagpunkt gab, zu dem fast niemand mehr die Maske trug und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo man fast zwingend mit einer aufkommenden Welle an Erkältungskrankheiten rechnen musste. Das hätte man besser nicht so sehr schnell gemacht. Auch die Abkehr von PCR-Tests macht es für uns schwierig, das Infektionsgeschehen zu überblicken. Die Inzidenzstatistiken haben fast jeden Wert verloren. Die Winterwelle wurde viel zu spät durch PCR-Tests angezeigt, im Abwassermonitoring des Landes war sie schon Wochen vorher zu erkennen. Gut gelaufen ist meiner Ansicht nach die Impfsituation, die wir zumindest von der Angebotsseite der Stadt gut gemacht haben.

Wie hat sich der Alltag in Ihrer Abteilung verändert?

Die Kontaktnachverfolgung hatte ihren Sinn verloren, daher war es auch richtig, das einzustellen. Dadurch sind gebundene Ressourcen frei geworden und wir hatten vor allem in der zweiten Jahreshälfte die Möglichkeit, originäre Aufgaben wieder mehr wahrzunehmen. Dazu zählen etwa die Schuleingangsuntersuchungen, die wir 2022 wieder flächendeckend durchführen konnten.

Haben sie bei den Schuleingangsuntersuchungen Veränderungen im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie feststellen können?

Eindeutig ja. Die statistischen Auswertungen liegen uns noch nicht vor, aber vom Eindruck her haben Auffälligkeiten bei Kindern zugenommen. Wie sich bundesweit zeigt, geht es nicht nur um Long Covid, sondern in den standardisierten Tests wird deutlich, dass Kinder vermehrt kognitive Defizite haben. Das wird noch eine große Aufgabe in der Zukunft.

Wie erleben Sie mittlerweile den Umgang der Leverkusener mit dem Virus? Sind viele besorgt oder eher müde?

Man merkt schon, dass im dritten Pandemiejahr eine Müdigkeit da ist. Das ist auch nicht anders denkbar, als dass die Menschen es einfach leid sind. Leider ist auch der falsche Eindruck entstanden, dass die Impfung gegen Infektion nicht mehr hilft. Die Studienlage zeigt immer noch, dass die Impfung nicht nur vor schwerem Verlauf schützt, sondern zumindest nach der Boosterung in bis zu 50 Prozent auch vor Ansteckung. Persönlich sieht man immer nur die Menschen, die geimpft sind und sich trotzdem anstecken. Den Anteil, der sich nicht ansteckt, sieht man nur in Studien.

Also raten Sie dazu, sich auch weiterhin impfen zu lassen?

Auf jeden Fall sollte man den Impfschutz aktuell halten. Aber auch andere Regeln sind weiterhin zu empfehlen: Denken Sie darüber nach, ob man in Innenräumen mit vielen Menschen nicht doch besser Maske trägt. Für Verwandtenbesuche im Heim sollte das zwingend so sein. Bei der Weihnachtsfeier lüften nicht vergessen, zumindest einmal in der Stunde. Und zu Silvester wäre auch noch ein Rat, dem Alkohol nicht zu sehr zuzusprechen, auch das fördert die Anfälligkeit für Infektionen.

Ist die aktuelle Erkältungswelle ein Nachholeffekt aus den vergangenen Jahren?

In dieser Form ist es ganz deutlich ein Nachholeffekt, das werden wir in den nächsten Jahren in dieser extremen Form nicht mehr erleben. Aber qualitativ wird es so bleiben: Influenza- und RS-Viren sind schon lange führende Viren in der Erkältungssaison. Sars-CoV-2 ist jetzt dazu gekommen.

Fürchten Sie, dass in absehbarer Zeit noch ein weiterer Erreger dazu kommt?

Dass wir eine neue Pandemie bekommen werden, ist unvermeidlich. Wir wollen nur hoffen, dass es nicht so bald kommt. Wenn man die Pandemien dieses und des letzten Jahrhunderts Revue passieren lässt, wird klar, dass die Abstände immer kürzer werden, bedingt auch durch den Klimawandel und die Globalisierung.

Das sind keine ermutigenden Aussichten. Da frage ich Sie lieber nach ihrem Wunsch für 2023.

Das Grundproblem im Gesundheitswesen liegt meiner Meinung nach darin, dass in der Vergangenheit zu viele maßgebliche Akteure das Gesundheitswesen als eine ökonomische Senke gesehen haben, in der Geld verschwindet, ohne Rendite zu bringen. Das ist gedanklich der falsche Ansatz. Meine Hoffnung wäre, dass erkannt wird, dass ganz im Gegenteil ein gut funktionierendes, auskömmlich finanziertes Gesundheitssystem eine Voraussetzung für dauerhaft stabile Ökonomie ist. So herum wird ein Schuh daraus. Diese Einsicht wünsche ich mir.

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