Bahnunglück in LeverkusenVor 72 Jahren riss ein Schnellzug 18 Jungen in den Tod

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Der Anhänger mit dem Ferienkindern wurde vom D-Zug mitgerissen und zerstört.

Leverkusen – In keinem Jahr hat Karl-Heinz Zilles das Datum vergessen. Am 8. August 1949 kam er mit einer Gruppe von 90 Kindern und Jugendlichen aus dem Ferienlager der Schlebuscher Pfarrgemeinde Sankt Andreas von der Weser zurück. Das Fahrzeug war ein improvisierter Lastzug. Ein Lastwagen zog zwei Anhänger, auf denen Bierbänke als Sitzgelegenheit unter einer Plane aufgebaut worden waren. An den Seiten gab es Glasfenster. Nie konnte Zilles verstehen, was den Busfahrer kurz vor Ziel am Übergang am Bahnhof Schlebusch bewegte, an der Schranke erst abzubremsen, dann weiterzufahren.

„Erst wenn die Schranke senkrecht steht, darf man queren.“ Der 84-Jährige hält sich daran. Bei einem Urlaub in Bayern habe man hinter ihm schon einmal ungeduldig gehupt, weil er solange gewartet habe. Aber wer seine Geschichte kennt, weiß warum er das macht.

18 Jungen getötet, 14 verletzt

Das Unglück ereignete sich um 23.02 Uhr am Bahnübergang zwischen der damaligen Bahnstraße und der Manforter Straße in Manfort. Es war die Zeit, zu der der Schnellzug D 99 nach Hamburg-Altona den Bahnhof passierte. „In diesem Augenblick wurde nach Darstellung des Lastzug-Fahrers die Schranke heruntergelassen und wieder hochgezogen. Das will den Fahrer veranlasst haben, mit seinen zwei Anhängern den Bahnkörper zu überqueren“, erklärte die Polizei im damaligen Zeitungsbericht. Der Weichenwärter gab zu Protokoll, dass er gerade auf auf beiden Seiten der Trasse die Schranken runtergelassen hatte.

Karl-Heinz Zilles lassen die Erinnerungen an das Unglück vor 70 Jahren in keinem Jahr los.

Karl-Heinz Zilles lassen die Erinnerungen an das Unglück vor 70 Jahren in keinem Jahr los.

Nur die Schranke zur Manforter Straße hin sei noch nicht ganz geschlossen gewesen. Da sei ein Radfahrer unter ihr hergefahren. Um ihn nicht auf dem Übergang einzuschließen habe er die Schranke zur Bahnstraße hin wieder geöffnet und gleich wieder geschlossen. Fahrer und Schrankenwärter kamen ins Gefängnis.

Erst geschlossen, dann wieder geöffnet. Die Schranke an der Manforter Straße.

Erst geschlossen, dann wieder geöffnet. Die Schranke an der Manforter Straße.

Es kam zur Katastrophe. Der Fahrer des Lastwagens fuhr weiter, die beiden Anhänger schlugen um, zerbarsten, 18 Jungen wurden getötet, 14 verletzt. Vier Stunden lag Karl-Heinz Zilles unter einem Eisenträger. In der Hand hatte er noch den Hals seiner Gitarre und kratzte die Erde weg, um sich zu befreien. Als er aufstand brach der Knochen aus der Wade, er habe geschrien, eine Krankenschwester sah ihn und eilte zur Hilfe.

Letzte Ölung im Notkrankenhaus

Ins Notkrankenhaus kam der Pastor für die letzte Ölung. Ein Jahr lag Zilles im Gipskorsett. „Danach musste ich laufen lernen“, sagt der Schlebuscher. Die Spielkameraden aus der Nachbarschaft – alle tot. Ganz schlimm seien für ihn Bemerkungen der Nachbarn gewesen, die sagten. „Karl-Heinz, du lebst noch, unser Hansi ist tot.“

An der Weser wurde das Bild gemacht, Karl-Heinz Zilles (rechts) spielte als einziger Gitarre. Sein Vater (Mitte Bild rechts) ebenfalls.

An der Weser wurde das Bild gemacht, Karl-Heinz Zilles (rechts) spielte als einziger Gitarre. Sein Vater (Mitte Bild rechts) ebenfalls.

„Das hat mich schwer getroffen“, sagt er. Gerührt habe ihn der Besuch des Fräulein Stricks an seinem Krankenbett. Aus ihrem Garten habe er sich vor dem Unfall in dem Jahr Obst gepflückt. Sie kam mit einem Korb voller Birnen, Äpfel und anderen Leckerbissen mit der Bemerkung: „Das konntest Du ja in diesem Jahr nicht stibitzen.“

Zur Erholung ins Allgäu geschickt

Da die Eltern kein Geld hatten und seine Kleidung bei dem Unfall zerfetzt worden war, trug er eine selbst geschneiderte Hose und Jacke aus einer kratzigen Pferdedecke. Ein Lichtblick waren die gesponserte Schwimmstunden beim TuS 04. Und mit anderen Unfallopfern ging es auf Kosten der Bundesbahn dreimal ins Allgäu. Den Schwimmsport blieb er treu, war noch mit 65 bei Seniorenschwimmwettkämpfen aktiv. Über das Schwimmen lernte er auch Heinrich Spangenberg kennen. Der Schlebuscher wiederum meldete sich vor zehn Jahren beim „Leverkusener Anzeiger“, da er noch den Hals einer Gitarre hatte, die sein Vater kurz nach dem Unglück auf dem benachbarten Eumuco-Firmengelände gefunden hatte. Erst durch den Zeitungsbericht erfuhr Zilles davon und es gab eine „Übergabe“ des Gitarrenhalses, den der Senior bei sich gut aufbewahrt.

Die Trauerfeier fand am 13. August 1949 statt. Fuhrwerke transportierten die mit Blumen geschmückten weißen Särge der Opfer und der lange Trauerzug setzte sich von der Andreaskirche über die Bergische Landstraße in Bewegung. Beigesetzt wurden 17 Getötete auf dem Waldfriedhof Am Scherfenbrand, ein Junge wurde auf dem Friedhof an der Manforter Straße beerdigt.

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