NS-TerrorAls die SA nachts 20 Männer aus Lindlar verschleppte

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Das Foto zeigt das sogenannte Pförtnerhaus entlang der Frankfurter Straße in Porz. Anfang 2023 wurde es abgerissen.

Das sogenannte Pförtnerhaus entlang der Frankfurter Straße in Porz. Es diente der SA 1933 als Wachlokal und Vernehmungszimmer und wurde Anfang 2023 abgerissen.

Die "Aktion Helling" ist bis heute nicht vergessen. Im November 1933 verschleppte die SA 20 Lindlarer in ein Lager nach Porz und misshandelte einige von ihnen.

Es geschah in der Nacht vom 20. auf den 21. November 1933, gegen 4 Uhr morgens: Rund 50 SA-Männer, unter anderem aus Lindlar, Overath und Wipperfürth, verstärkt um Polizeibeamte und Landjäger, umstellten die Ortschaften Altenrath, Böhl, Bolzenbach, Schümmerich und Eichholz – in Lindlar als „die Helling“ bekannt.

Die Männer in den Uniformen hatten eine Liste bei sich mit den Namen von 20 Verdächtigen. Sie hämmerten an die Haustüren – wer nicht öffnete, dem traten sie die Tür ein – und schreckten die Bewohner aus dem Schlaf. Unter den Angstschreien der Frauen und Kinder wurden die Männer aufgefordert, sich anzuziehen und mitzukommen.

Das sind ja die reinsten Räuber und Banditen
Schilderung eines Augenzeugen

Fragen wurden nicht beantwortet, stattdessen durchsuchten die Uniformierten die Häuser, durchwühlten Schränke und Schubladen. „Das sind ja die reinsten Räuber und Banditen“ , beschwerte sich ein Augenzeuge. Die Verdächtigen wurden auf den Lastwagen eines Lindlarer Getränkehändlers verladen und in das leerstehende Schutzhaftlager „Am Hochkreuz“ in Porz-Gremberghoven gebracht.

Was war der Hintergrund dieses nächtlichen Überfalls? Akten, die heute im Landesarchiv NRW in Duisburg liegen, geben Aufschluss über die „Aktion Helling“. Der frühere Lindlarer Gemeindedirektor Richard Fabritius (1916-2011) hat für sein 1994 erschienenes Buch „Lindlar – eine Gemeinde in bedrückender Zeit“ diese Akten ausgewertet und mit Zeugen gesprochen.

Die Wahl war eine Farce

Am 12. November 1933 gab es eine Reichstagswahl, bei der die Wähler nur die Einheitsliste der NSDAP ankreuzen konnten – alle anderen Parteien waren mittlerweile verboten. Parallel dazu fand eine Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund statt — dem Vorgänger der Vereinten Nationen. Mit großem Propagandaaufwand trommelten die Nazis für eine breite Zustimmung.

Die „Wahl“ lief weder frei noch geheim ab: In den Wahllokalen hingen Hakenkreuzfahnen und Hitlerbilder, die SA konnte die Wahllisten einsehen. Auch aufgrund des großen öffentlichen Drucks fiel die Wahlbeteiligung mit 95,2 Prozent sehr hoch aus. 95,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für den Austritt aus dem Völkerbund, die Einheitsliste kam auf 92,1 Prozent Zustimmung.

Viele Neinstimmen und Enthaltungen kamen aus der Helling

Regional gab es allerdings große Unterschiede. In Lindlar lag die Wahlbeteiligung „nur“ bei 80 Prozent, gleichzeitig registrierte man hier eine hohe Anzahl von Nein-Stimmen und ungültigen Stimmen. Unter den zehn Lindlarer Wahlbezirken stach die Helling deutlich hervor, mit 164 Ja- und 101 Nein-Stimmen zur Volksabstimmung, dazu kamen 21 ungültige Stimmen. Bei der Reichstagswahl zählte man 161 Ja-Stimmen und 125 Mal ungültig.

„Hier hatte man anscheinend den traurigen Ehrgeiz zu beweisen, dass dort die meisten Landesverräter sitzen“, ätzte das NS-Parteiblatt, der „Westdeutsche Beobachter“. Vor der Wahl hatte die NSDAP extra auf eine Verkleinerung der Wahlbezirke gedrängt, um ihre Gegner besser ausfindig zu machen.

Die "Schuld" suchten die Nazis bei den Kommunisten

Der kommissarische Lindlarer Bürgermeister Dr. Friedrich Jung erstattete dem Landrat Bericht. „Dieses Wahlergebnis, welches als katastrophal bezeichnet werden muss, lässt vermuten, dass in diesem Bezirk noch starke kommunistische Propaganda gerieben worden ist“, heißt es dort.

Kurz nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse fand in Lindlar ein Treffen statt, an dem neben dem Bürgermeister auch der NS-Ortsgruppenleiter Peter Bellinghausen teilnahm, und, als Mitglied der Kreisleitung der NSDAP, der in Lindlar lebende Porzer Bürgermeister Hermann Oedekoven. Sie erstellten eine Liste mit den Namen von 21 Verdächtigen. Diese Liste, so Jung in einem weiteren Bericht an den Landrat, sei man nochmals durchgegangen, habe vier Personen gestrichen und dafür drei andere Leute auf die Liste gesetzt, die als KPD-Anhänger bekannt waren.

Einige Opfer wurden von der SA gefoltert

Im Lager in Porz wurden die Männer aus der Helling mehrere Tage verhört, die SA folterte einige der Opfer. Man wollte herausfinden, ob es eine Verschwörung gegeben hatte und ob jemand die Wähler gezielt beeinflussen wollte. Der Verdacht richtete sich gegen Karl Stiefelhagen, den Vorsitzenden und Hauptmann der Hellinger Schützen.

Vor allem Hermann Oedekoven, der sich aus persönlichen Gründen an dem angesehenen Karl Stiefelhagen rächen wollte, insistierte. Doch übereinstimmend berichteten die Verdächtigten, dass weder Stiefelhagen noch ein anderer versucht hätten, die Wähler zu beeinflussen. Nur ein Beschuldigter gestand eine strafbare Handlung: Er habe zusammen mit sieben anderen Personen den Moskauer Sender gehört.

Stichhaltige Gründe für seine Festnahme bezw. Inschutzhaftnahme ergaben sich nicht
Ais dem Polizeibericht

Karl Stiefelhagen selbst wurde in Köln von der Staatspolizei mehrere Stunden vernommen. „Stichhaltige Gründe für seine Festnahme bezw. Inschutzhaftnahme ergaben sich nicht“, schrieb der Polizeibeamte in seinem Bericht. Auch dem Ortsgruppenleiter Bellinghausen kamen mittlerweile Zweifel. Er erkundige sich bei Steinbrucharbeitern aus der Helling nach den wirklichen Ursachen des schlechten Wahlergebnisses.

In einem Bericht an Gauleiter Josef Grohé berichtete er: „Diese erklärten mir übereinstimmend, dass in der Helling ziemliche Erregtheit darüber herrschte, dass im vergangenen Sommer der Schützenverein sein alljährliches Schützenfest in Verbindung mit der Kirmes nicht habe abhalten können.“

Der Oberpräsident der Rheinprovinz schaltete sich ein

Im Landesarchiv NRW findet sich ein Bericht von Bellinghausen, den er 1946 verfasst hat. Oedekoven habe täglich mehrfach bei ihm angerufen und gefordert, dass man auch Karl Stiefelhagen ins Lager Am Hochkreuz bringe. Doch das, so Bellinghausen, habe er abgelehnt.

Hermann Freiherr von Lüninck (1897-1975) war seit Frühjahr 1933 Oberpräsident der Rheinprovinz. Von seinem Wohnsitz, Haus Alsbach in Engelskirchen, kam er auf einem Spaziergang bis in die Helling. Anwohner berichteten ihm von der „Aktion Helling“ und den Männern, die im Porzer Lager inhaftiert waren.

Lindlarer NS-Ortgruppenleiter wurde entlassen

Lüninck bestellte Bellinghausen zum Gespräch ein, forschte weiter nach und erreichte, dass die 20 Männer wieder frei gelassen wurden. Zuvor mussten sie sich verpflichten, über das Geschehene zu schweigen. Hermann Oedekoven wurde verhaftet, aber nach zwei Tagen im Klingelpütz wieder entlassen. Denn der Porzer Bürgermeister hatte gute Beziehungen in die Parteispitze.

NS-Kreisleiter Walter Aldinger (1904-1945) zitierte NS-Ortsgruppenleiter Bellinghausen zu sich und machte ihm schwere Vorwürfe, weil er nicht den Dienstweg eingehalten und seine Vorgesetzten informiert, sondern sich direkt an den Oberpräsidenten gewandt hatte. Im Januar 1934 wurde Bellinghausen deshalb von Gauleiter Grohé entlassen. „Ihre Maßnahmen bezw. Handlungen lassen erkennen, dass sie den Aufgaben eines Ortsgruppenleiters der NSDAP durchaus nicht gewachsen erscheinen“, heißt es in dem Schreiben.

Ein Opfer nahm sich das Leben

Für einen der in Porz inhaftierten Männer endete die Aktion Helling tödlich. Hugo Rappenhöner war von seinen Peinigern schwer gefoltert worden, er beging am 27. November 1933 aus Verzweiflung in einem Wald bei Altenrath Selbstmord. Er hinterließ seine Frau und einen einjährigen Sohn.

„Der Todesfall löste nicht nur tiefes Mitgefühl mit der Familie aus. In der Helling und in der ganzen Gemeinde wuchs die Erregung und die Stimmung gegen die Verantwortlichen“, schreibt Richard Fabritius in seinem Buch. Der langjährige Lindlarer Gemeindedirektor berichtet, dass man sich nach dem Krieg im Rathaus von Lindlar erneut mit der Aktion Helling beschäftigte. Ein fünfköpfiger Untersuchungsausschuss befragte die Männer, die 1933 verhaftet worden waren.

Hellinger Schützen halten die Erinnerung wach

Einige der Protokolle legte man der britischen Militärregierung vor, sie wurden bei sogenannten Hochkreuz-Prozess verwendet. Die Drahtzieher und Hintermänner der Aktion Helling blieben jedoch ungeschoren. Die Hellinger Schützen, die 2025 ihr 100-jähriges Jubiläum feiern werden, halten die Erinnerung an die Aktion Helling wach.

Ludwig Stiefelhagen, der Sohn von Karl Stiefelhagen, war von 1953 bis 1997 Vorsitzender und Hauptmann des Vereins, außerdem Ehrenvorsitzender. Nachzulesen ist das in der sehr lesenswerten Chronik der Hellinger Schützen, die im Jahr 2000, zur 75-Jahr-Feier des Vereins, erschien. Verfasst wurde die Chronik von Alfred Rappenhöner, dem Sohn jenes Mannes, den die Nazis 1933 in den Tod getrieben hatten.

Mit fast 88 Jahren ist Leo Müller heute eines der ältesten Mitglieder der Hellinger Schützen, er kennt die Geschichte des Vereins gut. Als dieser von den Nazis aufgelöst wurde, hätten drei mutige Frauen die Schützenfahne, die sonst wohl verbrannt worden wäre, auf dem Dachboden der Gaststätte Prinz versteckt. So hat sie sich bis heute erhalten, auch als Zeichen des Widerstands. „Die Helling hat sich immer gewehrt“, sagt Müller.


Für die St. Johannes-Schützenbruderschaft Helling hat ihre erste Fahne aus dem Jahr 1926 eine ganz besondere Bedeutung. Ein Jahr zuvor war der Verein aus der Taufe gehoben worden. 52 Männer, so steht es in der Chronik, gründeten am 29. August 1925 in der Gaststätte Prinz den „Schützenverein Helling“. Erster Vorsitzender und Hauptmann wurde Karl Stiefelhagen aus Böhl.

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gekommen waren, wurden alle Vereine „gleichgeschaltet“. Was unter anderem bedeutete, dass der Vorsitzende nicht mehr gewählt, sondern von der NSDAP bestimmt wurde. Die Hellinger Schützen widersetzen sich und wählten erneut Karl Stiefelhagen zum Hauptmann und Vorsitzenden. NS-Ortsgruppenleiter Peter Bellinghausen wies dies zurück und drohte dem Verein mit Auflösung. Die Hellinger schlossen sich daraufhin der Erzbruderschaft vom Heiligen Sebastianus an. Für katholische Verbände galten Sonderregelungen.

Das Foto zeigt Leo Müller mit der Fahne der Hellinger Schützen.

Leo Müller mit der Fahne der Hellinger Schützen.

Doch den Kampf mit der Obrigkeit konnten die Schützen nicht gewinnen. Erst verbot Bürgermeister Dr. Jung – auf Veranlassung von Bellinghausen – den Hellingern ihr Schützenfest, dann wurde der Verein 1934 aufgelöst, das Vermögen eingezogen. Die Fahne aus dem Jahr 1926 wurde auf dem Dachboden der Gaststätte Prinz versteckt und überstand so die NS-Diktatur. 1950 beschloss eine Versammlung, die Hellinger Schützen wieder aufleben zu lassen. Im kommenden Jahr feiert die Bruderschaft den 100. Geburtstag des Vereins. 

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