Schikane, VerhandlungenFrielingsdorfer Seenotretter erzählt vom Einsatz im Mittelmeer

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Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Das Bild stammt von Sea-Eye.

Frielingsdorf – „Diese Menschen springen einfach ins Wasser. Sie sterben lieber als länger die Zustände ertragen zu müssen, aus denen sie kommen.“ Jonas Lüdtke blickt nach oben. „Man muss das so klar benennen, weil es genau so ist“, sagt er nach einer kleinen Pause.

Anfang September 2020 steigt der 32-Jährige im spanischen Burriana auf die „Alan Kurdi“. Fast 70 Jahre alt ist der dunkelblau lackierte Kahn, der unter deutscher Flagge fährt. Er stammt noch aus einer DDR-Werft. Seit dem Vorjahr trägt er den Namen des zweijährigen syrischen Jungen, der 2015 auf der Flucht nach Griechenland vor der türkischen Mittelmeerküste ertrank. Das Foto seines dort angeschwemmten Leichnams ging um die Welt.

Dolmetschen auf hoher See

Bevor die 20-köpfige Besatzung nach bestandenem Corona-Test die Leinen lösen kann, tobt seit Monaten ein Kleinkrieg zwischen Sea-Eye und den Behörden um Auslaufgenehmigungen und Sicherheitsgutachten. „Die Mittelmeer-Staaten behindern und verzögern unsere Arbeit, wo sie nur können“, schimpft Lüdtke. „Vor allem Italien schikaniert die Besatzung und macht uns das Leben zur Hölle.“

Hintergrund

Jonas Lüdtke (32) kommt aus Frielingsdorf und hat mehrere Freiwilligendienste auf hoher See absolviert. 2018 und 2019 war er für die US- Umweltschutzorganisation „Sea Shepherd Conservation Society“ auf der „Bob Barker“ unterwegs. Er beteiligte sich unter anderem an Aktionen gegen illegale Hai-Fischerei vor Westafrika und an Schutzmaßnahmen für Meereslebewesen in Mittelamerika.

Sea-Eye ist eine deutsche Seenotrettungsorganisation und beteiligt sich seit 2016 an der Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Der Verein wurde 2015 in Regensburg gegründet. Nach eigenen Angaben hat Sea-Eye bis heute rund 12 000 Menschen aus Seenot gerettet. Sea-Eye wird unter anderem von der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Erzbistum München und Freising unterstützt. (sfl/r) Fotos: Fabian Heinz/Sea-Eye

Der Frielingsdorfer berichtet von behördlichen Sicherheitschecks, die mürbe machen sollen. Einmal sei als Mangel notiert worden, dass es an Bord zu viele Rettungswesten gab. „Zu viele – das muss man sich mal vorstellen“, fasst sich Lüdtke an den Kopf. Während die meisten Schiffe höchst selten kontrolliert würden, kämen die Kontrolleure mehrmals täglich auf die „Alan Kurdi“. „Es sind immer die gleichen Typen, immer das gleiche Schiff, aber sie haben sich jedes Mal etwas Neues überlegt“, so Lüdtke.

Im Zick-zack-Kurs vor der libyschen Küste

Am 5. September läuft das Boot aus und nimmt Kurs auf Libyen. Jonas Lüdtke spricht fließend Französisch, er ist deshalb als „communicator“ eingesetzt, als Mann für die erste Ansprache der Flüchtenden. Im Zick-zack-Kurs durchkreuzen die Helfer das Meer vor Libyen, um eine möglichst große Fläche abzudecken. Dabei bleiben sie streng außerhalb der 24-Meilen-Zone, also in internationalem Gewässer, wie Lüdtke betont. Zwei Helfer besetzen den Ausguck, alle fünf Minuten erfolgt der Rundumblick per Fernglas. „Gerade Schlauchboote sind so flach, dass man sich enorm konzentrieren muss, um sie zu entdecken“, erklärt der Frielingsdorfer.

Am vierten Tag melden die Posten ein Gummiboot, besetzt mit 89 Menschen aus Mali, Burkina-Faso, dem Jemen und Ägypten, wie sich später herausstellt. „Die Boote, die genutzt werden, sind immer untauglich. Da werden 30-PS-Motoren verwendet, um 120 Leute zu transportieren. Du musst enorm verzweifelt sein, wenn du in ein solches Boot steigst und damit aufs Meer fährst“, sagt Jonas Lüdtke.

Ein „Wettlauf des Schicksals“

Gemäß den Vorschriften informiert die Schiffsführung die libysche Küstenwache über das Gummiboot – und gibt dann Vollgas. Denn nun beginnt ein „Wettlauf des Schicksals“. Erreichen die Rettungsschiffe der Hilfsorganisationen die in Not Geratenen zuerst, steht die Tür nach Europa weit auf. Ist die Küstenwache schneller, droht den Menschen Lebensgefahr. „Das ist keine Küstenwache, wie wir sie uns vorstellen“, so Lüdtke. Sie sei vielmehr eine halboffizielle Miliz, die zudem noch von der EU finanziert werde. Er wirft Libyen vor, Geflüchtete zu foltern und in Gefängnissen verschwinden zu lassen. „Beliebt ist momentan die Lösegeld-Erpressung von Angehörigen, die es bereits nach Europa, vor allem nach Deutschland, geschafft haben“, berichtet Lüdtke.

Tatsächlich erreichen Lüdtke und Co. das Gummiboot zuerst. Auch bei zwei wenig später havarierten Holzbooten sind sie schneller. Dabei kommt ihnen ein Boot der Küstenwache sehr nah, das bereits Geflüchtete an Deck hat. „Diese Menschen realisieren in diesem Moment, dass sich für unsere Gäste ein Traum verwirklicht. Und für sie nicht. Den Blick in diese verzweifelten Gesichter vergisst du nicht“, sagt Lüdtke leise.

Ein Selbstläufer wird die Überfahrt nach Europa aber auch für die Menschen auf der „Alan Kurdi“ nicht, im Gegenteil. Ununterbrochen verhandeln Brücke und Sea-Eye-Zentrale mit den europäischen Regierungen über die Aufnahme der insgesamt 133 Geretteten. Frankreich und Italien erklären sich gegenseitig für zuständig, Malta schweigt komplett und irgendwo im Hintergrund mischen auch deutsche Ministerien mit.

Polizisten mit Schlagstöcken empfangen die Flüchtlinge

Als das Wetter auf See immer schlechter wird, erklärt sich die Bürgermeisterin von Marseille per Funk zur Aufnahme bereit, wird aber von der französischen Regierung zurückgepfiffen. Letztlich gibt Italien grünes Licht für das Einlaufen in den Hafen von Olbia auf Sardinien.

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„Beschämend“ sei der Empfang dort gewesen, erinnert sich Lüdtke. „Etliche Polizisten mit Helmen und Schlagstöcken standen am Hafen. Auf unserem Boot hockten Menschen barfuß im Regen, die nicht mehr besaßen als eine kleine Plastiktüte.“ Für Jonas Lüdtke ist der Umgang mit den Mittelmeerflüchtlingen keine Angelegenheit der Franzosen oder Italiener. Die derzeitigen Verhältnisse seien eine „Schande für ganz Europa“. Während der Warterei an Bord hat er mit den Menschen gesprochen. Sie haben erzählt, warum sie ihre Dörfer verließen und von den Strapazen der Flucht berichtet. Von unzähligen Toten auf dem Weg durch die Sahara und der großen Furcht der Nichtschwimmer vor dem Mittelmeer.

Mit einigen Geflüchteten hält Jonas Lüdtke bis heute Kontakt. Auch mit den übrigen Helfern der „Alan Kurdi“ unterhält er sich regelmäßig. Viel mehr können sie derzeit nicht tun. So schnell wird das Schiff wohl nicht auslaufen. Sicherheitschecks der italienischen Behörden stehen wieder einmal an.

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