Ökobilanz seines LebensDirk Gratzel aus Stolberg will frei von Klimasünden sterben

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Dirk Gratzel hat mehrere Hühner.

Dirk Gratzel hat mehrere Hühner.

  • 48 Jahre lang war Dirk Gratzel die Umwelt ziemlich egal. Bis er eine radikale Entscheidung fasste
  • Sein Ziel: Er will mit einer ausgeglichenen Ökobilanz sterben - das geht nicht bloß, indem er ein paar Bio-Äpfel kauft
  • Dirk Gratzel ist kein Ideologe, er ist Jurist, Ex-Vorstand eines großen Konzerns und passionierter Jäger

Stolberg – Emil ist nervös und will nicht auf die Matte. Stattdessen liegt er unter dem Tisch und schmatzt. Immer, sagt Herr Gratzel, kaue der Hund auf irgendwas herum. Dann geht er in die Hocke, herunter zu Emil, und die Knie von Herrn Gratzel ragen fast bis zu seinen Schultern, so lang sind die Beine.  Die Welt scheint dann etwas zu klein geraten für diesen Mann aus Stolberg: 50 Jahre, ein ganzer Kerl, intelligent dazu, kaum Haare, fast zwei Meter und mindestens noch mal fünf Zentimeter Ausstrahlung obendrauf.

Herr Gratzel aber kennt mehr von sich als nur den ersten Eindruck. Und deswegen, es war im Frühjahr 2016, begriff er: Nicht die Welt ist für ihn zu klein geraten, sondern sein Leben zu groß. Also fasste Herr Gratzel den Plan, es selbst wieder zusammenzudrücken, mit viel Kraft und Mühe. Er, der ein Unternehmen für künstliche Intelligenz leitet, vertraut keiner höheren Macht mehr. Er will sich selbst erlösen: von den Klimasünden, die er begangen hat.

Ein paar Bio-Äpfel reichten Herrn Gratzel nicht

48 Jahre lang war Herr Gratzel die Umwelt ziemlich egal. Dann wurden seine Kinder älter, die Gespräche mit ihnen politischer. Fast jeden Tag las er vom Klimawandel. Irgendwann dachte er: „Wenn das alles wirklich so wahr und so schlimm ist, dann muss ich aufräumen, bevor ich gehe.“

Dirk Gratzel ist keiner, der im Hambacher Forst ein Schild gegen Braunkohle hochhält. Dirk Gratzel ist auch keiner, der für Tierrechtsorganisationen in Ställe einbricht. Dirk Gratzel ist kein Ideologe, er ist Jurist, Ex-Vorstand eines großen Konzerns und passionierter Jäger.

Und ein Mensch, der bedingungslos lebt. Ein paar Bio-Äpfel kaufen reicht ihm nicht. Deswegen begann er Mitte 2016 NGOs anzuschreiben: den Naturschutzbund, den „World Wide Fund For Nature“ (WWF) und viele andere. Er sagte ihnen, er wolle mit einer ausgeglichen Ökobilanz sterben. Sie sagten: Gute Idee, aber dafür gibt es keine Methode.

NRW lebt größtenteils im Öko-Defizit

68 Tage – so lang kann Nordrhein-Westfalen seinen eigenen ökologischen Bedarf abdecken. Ab etwa dem 8. März jeden Jahres ist das „Ökobudget“ des Landes aufgebraucht, dann lebt NRW  im „ökologischen Defizit“. Das hat das „Global Footprint Network“  im Jahr 2016 ausgerechnet.  Die Wissenschaftler liefern weitere ernüchternde Zahlen: Würde die ganze Welt so leben wie NRW, bräuchte man jährlich  3,3 Erden, um  den Bedarf mit der tatsächlich vorhandenen biologisch produktiven Fläche  zu kompensieren. Damit liegt NRW leicht über dem Bundesdurchschnitt, auch weil besonders viel fossile  Energie hierzulande erzeugt wird. Um die Ausstöße zu senken, empfehlen die Wissenschaftler, dass jeder einzelne sein Konsumverhalten hinterfragt. Das so detailscharf zu machen wie der Stolberger Dirk Gratzel ist nicht möglich. 

Dennoch gibt es eine Reihe von Angeboten: Den CO2-Rechner des Umweltbundesamtes etwa. Oder „Atmosfair“, eine Organisation, bei der man die eigenen Treibhausgasemissionen äquivalent durch eine Geldspende an Klimaschutzprojekte an anderer Stelle einsparen kann.

wwww.uba.co2-rechner.de www. atmosfair.de   

Die Dusche dauert nur noch 45 Sekunden

Gratzel wühlte sich weiter durchs Internet, stieß auf Matthias Finkbeiner, den Leiter „Technischer Umweltschutz“ an der TU Berlin. Und schrieb eine Mail: ob Finkbeiner helfen könne? Finkbeiner konnte. Fortan war Dirk Gratzel nicht einfach Mensch, sondern Untersuchungsobjekt. Mit dem Ziel, die ökologischen Auswirkungen eines menschlichen Lebens in drei Phasen zu bestimmen. Die individuelle Ökobilanz eines Lebens berechnen, das hatte sich vorher noch keiner getraut.

„Emil ist ein guter Hund“, sagt Herr Gratzel und zieht ein dünnes Band aus dessen Schnauze, das vor ein paar Stunden noch um eine Wurst gebunden war. Aber: der Hund, das sind täglich 1,8 Kilogramm dessen, was in der Wissenschaft „CO2 -Äquivalent“ heißt und den Beitrag einer Sache zum Treibhauseffekt beschreibt. 1,8 Kilogramm mehr Schaden in der Atmosphäre, die auf Gratzels Konto gehen.

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Emil durfte trotzdem bleiben, als Herr Gratzel sein Leben mit Hilfe der Wissenschaftler radikal änderte, seinen Jaguar verkaufte und damit begann, morgens nur noch 45 Sekunden zu duschen. Das reicht, um sauber zu werden. Jede Sekunde mehr wäre Wasserverschwendung. Von allem, was Gratzel besitzt oder je besessen hat, was er tut oder je getan hat, weiß er inzwischen, wie sehr es dem Klima schadet. Der erste Schritt des Projekts war die Dokumentation. Gratzel sollte sein komplettes Leben rekonstruieren, in nur zwei Monaten.

Herr Gratzel begann im Schlafzimmer. Er zählte seine Sockenpaare, schaute, wo sie produziert wurden, aus welchem Stoff sie sind. Das tat er bei all seiner Kleidung. An drei Wochenenden ging er auf und ab in dem großen, denkmalgeschützten Haus und untersuchte alles in seinem Besitz auf Herkunft, Beschaffenheit, Verschleiß. Er wog seine Nahrung und die Säcke voll mit getrenntem Müll. Er kramte alte Fahrtenbücher heraus, überschlug Flugkilometer. Wenn er im Restaurant aß und keine Waage dabei hatte, stellte er zu Hause das Gericht noch einmal nach. Die Ergebnisse schickte er nach Berlin, zu Finkbeiners Mitarbeiter.

Der Hund bekommt jetzt Selbsterlegtes von der Jagd

Der wertete die Aufzeichnungen aus. 50 Jahre Gratzel, aufgeschlüsselt in vier Kategorien: Eutrophierung, also die Schädigung von Gewässern durch zu viele Nährstoffe; Smog; Versauerung der Böden und die Klimaänderung. Viele Daten, schwer verständlich. Am Ende stand eine erschreckende Zahl: 27 Tonnen. So viel CO2 produziert Dirk Gratzel im Jahr. 16 Tonnen mehr als der Bundesschnitt.

Phase zwei: Dirk Gratzel muss Verzichten lernen. Also kauft er sich ein neues Auto, einen Hybrid. Die meiste Zeit fährt er aber nun mit dem Rad und der Bahn, er hat viele Geschäftstermine, überall in Deutschland. Das Reisen dauert jetzt länger. Endlich Entschleunigung, sagt Herr Gratzel. Er kauft nur noch regionale und saisonale Lebensmittel. Ein Energieberater untersucht das Haus. Herr Gratzel lässt die Fenster austauschen, die Heizungsanlage überarbeiten. Jagen tut er immer noch. „Wild wird nicht gezüchtet, deshalb ist die Ökobilanz null, wenn man Selbsterlegtes isst“, sagt Herr Gratzel. Auch sein Hund bekommt jetzt Wild als Futter.

Gratzels Entschlossenheit, ein obsessiv durchgeplantes klimafreundliches Leben zu führen, wirkt: Sein CO2 -Ausstoß ist auf sieben Tonnen im Jahr zurückgegangen. Und damit ist er von dem international formulierten Zwei-Tonnen-Ziel pro Mensch noch weit entfernt.

Dirk Gratzel mit seinem Hund Emil, der täglich 1,8 Kilogramm CO2 -Äquivalent produzierte.

Dirk Gratzel mit seinem Hund Emil, der täglich 1,8 Kilogramm CO2 -Äquivalent produzierte.

Kürzlich ist Gratzels Projekt in die dritte Phase gestartet: Kompensation. Zwar hat er alle aktuellen Schadwirkungen auf Boden, Luft, Wasser, Klima bis ins maximal Mögliche reduziert. Aber da bleiben noch 48 Jahre Klima-Ignoranz, die er mit sich herumschleppt. Finkbeiner hat ihm einen Katalog zusammengestellt mit rund 60 Empfehlungen von Umweltverbänden. Projekte, die das Klima retten, in die Gratzel nun investieren soll.

Es geht nicht um die Verbesserung der Welt

Aber das reicht ihm nicht. „Ich will keinen Ablass. Das hieße, dass nur Menschen mit Geld klimafreundlich leben können.“ Deswegen sucht er nach Möglichkeiten, in der Umgebung zu helfen, nicht mit seinem Wohlstand, sondern mit seiner Körperkraft. „Es hat eine andere Qualität, wenn ich es selbst mache“, sagt er. Dirk Gratzel will nicht die Menschheit verbessern. Er will den Menschen Dirk Gratzel verbessern.

Sein Projekt ist nicht massentauglich, das weiß er. Trotzdem hat er angefangen, Vorträge darüber zu halten, war kürzlich deshalb im Umweltministerium in Düsseldorf. „Wir müssen Nachhaltigkeit praktikabel machen“, sagt Herr Gratzel. Und was, wenn die meisten gar nicht nachhaltig leben wollen?

„Ich glaube schon an die Intelligenz der Menschen“, sagt er. Und: „Ich habe jetzt auch Hühner. Wollen Sie die mal sehen?“ Eigentlich sind es die Hühner seiner Nachbarn. Aber Herr Gratzel ist „Investor der ersten Stunde“. Eier als die beste Rendite, so kann sich ein Mensch ändern. Drei Häuser weiter gackern acht Tiere, als Herr Gratzel ihnen Futter über den Zaun wirft. In drei Wochen, sagt Herr Gratzel, muss er auf die Hühner aufpassen, dann sind die Nachbarn im Urlaub. „Hoffentlich holt der Fuchs keins“, sagt er und schaut ein wenig nervös in Richtung des Stalls. Es gibt noch Dinge, die kann auch er nicht planen.

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